Fichtenwalde — Ein Dorf sucht einen Mörder

■ Seit Monaten treibt ein unbekannter Frauenmörder südlich von Potsdam sein Unwesen/ Die kleine, heile Welt der Bewohnerinnen und Bewohner geriet aus den Fugen: Ressentiments gegen Fremde und nackte Angst bestimmen ihren Alltag

Es war einmal ein kleines Dorf bei Potsdam namens Fichtenwalde. Gegründet wurde es im Jahre 1908 von einem Dutzend kleiner Angestellten und Gewerbetreibenden aus dem Westen Berlins, die von einem sorglosen Leben zwischen Tannenforst und Waldlichtung träumten. Doch daraus wurde nichts.

Es kam der Erste Weltkrieg, und die Kolonie verlor ein paar Söhne. Es kam die Weimarer Republik, und die kleine Siedlung wuchs auf Dorfgröße heran. Es kamen die Nazis, es kam der zweite große Krieg: Viele Kinder aus dem zerbombten Berlin wurden nach Fichtenwalde verschickt. Dann kamen die Russen, die zogen ins benachbarte Beelitz. Dann die Kommunisten: Die bauten eine Datsche neben die andere, über tausend an der Zahl. Seitdem bevölkern über 4.000 Ostberliner an jedem Wochenende die 940 Seelen-Gemeinde. Sie reisen freitags mit ihren Autos an, kaufen den Konsum leer und sprengen solange ihren Rasen, bis in Fichtenwalde kein Wasser mehr aus den Hähnen tropft. Seit einem Jahr kommen auch die Wessis. Zunächst gingen sie nur spazieren und sahen sich die Häuser an. Dann brachten sie, erzählt man sich im Dorf, Rechtsanwälte und Dobermänner mit, um die Fichtenwalder davon zu überzeugen, daß die idyllisch gelegenen Häuschen eigentlich ihnen gehörten. Es wird behauptet, daß die Wessis nicht nur die Rechtsanwälte von der Leine ließen.

Das alles jagte den Fichtenwaldern jedoch keine Lebensangst ein. Die 940 Einwohner — LPG-Arbeiter, Professoren, Schweißer, Erzieherinnen, Angestellte, Händler und neuerdings auch Arbeitslose — richteten die Antennen ihrer Häuser gen Westen, schlossen abends die Pforten nicht ab, fürchteten nachts weder um ihre vor dem Haus abgestellten Autos noch um ihre Kinder, die tagsüber sorglos durch den Wald streiften, um dort großartige Abenteuer zu erleben. Die alten Frauen des Dorfes radelten unbekümmert zum im Wald gelegenen Friedhof, um dort ein paar Stiefmütterchen auf die Gräber ihrer verstorbenen Männer zu pflanzen. Die jungen Mütter schoben ihre Kinderwagen zweimal täglich die Hauptstraße entlang, suchten sich ein Plätzchen unter einer Tanne, durchdachten das Mittagessen oder die Einkaufsliste. Fichtenwalde lag gesegnet im Forst. Bis im März der Mörder kam.

Seine Taten sind nicht nur grausam, sie verwirren zudem. Am 13. März fand man bei Borkheide, unter Mooszweigen verborgen, die 34jährige Inge F. aus Potsdam erstochen in einer Schonung auf. Neben ihrem Leichnam hatte der Täter Frauenunterwäsche verstreut. Wenig später, am 22. März, wurde die russische Offiziersgattin Tamara P. und ihr drei Monate alter Sohn auf dieselbe Art und Weise bei Beelitz umgebracht. Auch hier wieder: Damenwäsche. Am 5. April entkamen im Wald bei Sputendorf ein zehn- und ein zwölfjähriges Mädchen dem Mörder nur knapp. Aufgrund der Angaben der schwerverletzten Mädchen konnte die Polizei ein Phantombild anfertigen. Ob der Täter tatsächlich so aussieht, wie er dem Zeichner beschrieben wurde, ist immer etwas zweifelhaft. Ein oder zwei Tage später — so genau weiß man das nicht — erwürgte er die 66jährige Talita B. in ihrem Haus in Fichtenwalde. Man fand die alleinlebende Frau knapp zwei Wochen später — halb verwest. Die Verkäuferin des Konsums hatte sich gewundert, das Frau B. schon länger nicht mehr vorbeigekommen sei und den Neffen der Ermordeten informiert. Neben der Toten fand man eine Plastiktüte, gefüllt mit Büstenhaltern, Slips, Röcken und Blusen. Todesursache: »Kompression der Halsweichteile«. Zuvor hatte der Mörder die Frau vergewaltigt.

Zu »sexuellen Handlungen« sei es auch bei den anderen Taten gekommen, meint die Potsdamer Staatsanwältin Marianne Böhm, die den Vierfachmörder von Beelitz sucht. Vergewaltigung will sie das nicht in jedem Fall nennen. Fest steht: Als die Polizei die Wälder bei Potsdam und Beelitz durchsuchte, fand sie eine Art Lagerstätte des Täters. Damenwäsche, Pornohefte, Spermaspuren, einen Rucksack und einen violetten Jogginganzug. Die Razzia im Wald hätte alles mögliche zu Tage gebracht. »Sie glauben gar nicht, wie viele Wäschefetischisten alleine in Brandenburg rumlaufen!« stöhnt sie. Die sogenannte heiße Spur fehlt ihr bisher. Man habe etwa 25 bis 30 Männer unter vagem Verdacht, deren Alibis man überprüfe. Diejenigen, die man überprüft habe, hätten ein Alibi gehabt. Marianne Böhm ist sicher, daß es sich nur um einen Täter handelt, »Trittbrettfahrer« seien bisher nicht involviert. Ist der Mann, den die schwerverletzten Kinder als jung, groß und blond beschrieben, verrückt? »So weit würde ich nicht gehen. Wenn wir den haben, muß das ein forensischer Psychiater untersuchen«, erklärt die aus dem Westen stammende Anklägerin.

Während sich Marianne Böhm an die Fakten hält, sind in Fichtenwalde die wildesten Gerüchte im Umlauf. Der Mörder komme nur bei Dämmerung, nie am Mittwoch, meistens am Wochenende, will beispielsweise Bürgermeister Werner Höhn (56) wissen. Und: Die »Sache« laufe schon seit dem vergangenen Sommer. Erst vor kurzem habe ihm ein Westberliner von merkwürdigen Dingen erzählt, die sich im August des vergangenen Jahres zugetragen hätten. Der Mann sei durch den Wald spaziert, bis ihm eine an einen Baum gelehnte Kinderpuppe aufgefallen sei. Ringsherum hätte Damenunterwäsche gelegen, auch mehrere Sexheftchen hätte er gefunden. Nein, sowas hätte es in Fichtenwalde noch nie gegeben. »Die Frauen hier haben eine furchtbare Angst!« meint Hella Höhn, die Gattin des Bürgermeisters. »Und jetzt«, fügt sie hinzu, »kommt der Killer auch noch ins Haus!« Talita B. wurde in ihrer Wohnung erdrosselt.

Die Dorfbewohner versuchen nun, sich einen Reim auf das Unbegreifliche zu machen und ihre Angst zu bekämpfen. Die alten Frauen gehen nur noch in größeren Gruppen zum Friedhof. Zum Einkaufen nehmen alle einen Hund mit. Die Kinder dürfen nicht mehr im Wald, sondern nur noch auf dem eigenen Grundstück und unter Aufsicht spielen. Die Männer patroullierten abends zu Dutzenden durch den Wald — die Polizei hat ihnen inzwischen davon abgeraten. Im einzigen Werkzeug- Fachgeschäft des Ortes werden neuerdings nicht nur Gartenzwerge, sondern auch Tränengaspistolen und Reizgasflaschen verkauft. »Die gehen weg wie nichts!« meint der Besitzer des Ladens, Klaus Rönicke. Froh ist der gelernte Schlosser freilich nicht über den gestiegenen Umsatz. Früher, so meint er, habe man einen Polizisten im Ort gehabt. Den hätte jeder gekannt. Nach der Wende wurde die Polizei neu strukturiert, — die nächste Wache liegt nun etliche Kilometer weit entfernt in Michendorf. Und der einzige öffentliche Fernsprecher im Ort ist schon seit Wochen kaputt. Während er früher vielleicht viermal im Jahr gerufen wurde, um Sicherheitsschlösser zu montieren, »hab ich zur Zeit jeden Tag so was zu machen«, berichtet er weiter.

»Heute morgen soll er ja wieder gesehen worden sein!« erzählt ein junger Mann, der im Konsum eine Schachtel Zigaretten kauft. Schon vor einem Jahr, so heißt es, sei jemand durch die Wälder geschlichen, der der Phantomzeichnung sehr ähnlich sehe. Erst am vergangenen Wochenende sei eine Russin dem Mörder von Beelitz nur knapp entkommen. Das hätte in der Zeitung gestanden. Die Staatsanwältin weiß zwar von einer versuchten Vergewaltigung. Ob der Mann aber, den sie sucht, damit zu tun hat, kann sie nicht sagen.

Die Bewohner von Beelitz versuchen zu begreifen, was eigentlich passiert. Wahrscheinlich sei das einer aus der Gegend, meint eine etwa 40jährige Frau. Woher habe er sonst wissen können, daß die 66jährige Frau B. alleinstehend ist? Aber vielleicht habe er sie ja auch beobachtet. »Jedenfalls geh' ich nicht mehr allein in den Wald und schließ schon tagsüber alle Türen ab!« erklärt sie.

»Wir sind nicht in der Lage, Unbekannte sofort zu erkennen«, klagt Bürgermeister Höhn. Der Ort sei wegen der 4.000 Datschenbewohner, die jedes Wochenende kämen, »total überfremdet«. Sicher, die Polizei würde Streife laufen, Beamte in Zivil seien im Einsatz. Viele hätten trotzdem den Eindruck, als »passiere nichts«. Der »Haß auf alles Fremde« hätte erheblich zugenommen. Früher hätte man sorglos gelebt, nun fühle man sich erheblich bedroht. Erst die Datschenbesitzer, die einem alles wegkauften. Dann die Wessis, die alles wiederhaben wollten. Und nun auch noch der Mörder. Wo soll das noch enden?

Die Staatsanwältin Marianne Böhm sitzt in ihrem Büro des Bezirksgerichtes am Nauener Tor in Potsdam und läßt fahnden, prüfen, untersuchen. 50 Kriminalbeamte suchen in Beelitz, in Fichtenwalde, in ihren Amtsstuben fieberhaft nach einer heißen Spur. Die Hinweise aus der Bevölkerung deuten bis nach Moskau.

Vier Morde, mindestens zwei Mordversuche; man braucht langsam den Erfolg. Heiße Spuren werden kalt, kalte Spuren werden heiß, »so schnell können Sie gar nicht gucken«, meint sie. Rund 30 verdächtige Personen werden überprüft. Täglich kommen welche hinzu, täglich werden Verdächtige von der Liste gestrichen. Irgendwann wird sie einen Haftbefehl ausstellen lassen. Vielleicht schon morgen, vielleicht in zwei Wochen oder ein paar Monaten. Wann? Wenn sie sich zu 80 Prozent sicher ist, daß der Verdächtige die Taten begangen hat. Denn so schreibt es das Strafgesetzbuch vor. Am 30. April war sie sich noch nicht sicher. Claus Christian Malzahn