Was bin ich? — Was soll er?

■ Sting erzeugte in der Deutschlandhalle Identitätskrisen und Deplazierangst

Hätte man sich — durch die pure physische Anwesenheit in der Deutschlandhalle — erst mal öffentlich bekannt: »Ja, auch ich höre Sting!«, dann hätte eigentlich alles gut und klar sein können. Denn der Begriff »Sting« hätte die Koordinaten für ein ganzes, ordentliches und gesetztes Lehrerinnen-Leben inklusive netten Konzerterlebnisses bereitstellen können. Aber nach diesem Auftritt am Mittwoch ist alles wieder unklar.

Bis dato galt die Devise: Der Mann soll singen, melodiöse Banalballaden, so schön wie möglich und mit so kostbarem Timbre wie es sonst nur Operndiven angelastet wird — aber uns nicht mit edlem Gedankengut belästigen. Denn das ganz allgemeine Gute, suchen wir ab dreißig ja selbst unaufhörlich. Also: Sting, sing! Jetzt hat er aber zwei Stunden vorwiegend den in einer Halle bekanntlich gar nicht vorhandenen Mond angeweint. Muß seine neue Platte Soul Cages unter die Leute bringen. Die besteht aus einer ziemlich unerträglichen und gleichförmigen Jaul-Soße, die weder fetzt noch schmeichelt, sondern nur noch diffus herumeitelt und hier oder dort einen Angel fallen läßt und erdverbunden sich um Fishermen kümmert.

Ja, und bald stellt sich die Frage, ob Sting nicht doch lieber denken sollte, während einige Konzertteilnehmer verzweifelt nach »Music« und der Polizei rufen. Prompt kamen die alten, schönen Schinken, und das Jungvolk war ganz entfesselt, und wieder fühlten sich die Alten falsch und wünschten sich in die gepolsterten Sessel des ICC, wo sie kein begeisterter und nicht ganz taktgleicher Kinderellenbogen gerammt hätte. Die Police, die sie gerufen, wurden sie nun nicht wieder los. Und was bin ich? Fünfzehn oder fünfunddreißig? Identitätskrisen stellen sich ein.

Sting also lieber denkend? Indiz fürs Denken ist oftmals das Sprechen. Mal abgesehen von der großen Widerwärtigkeit, wenn ein häßlicher, pfälzerisch sprechender Schmiermanager den wunderbaren Wings, der als Vorgruppe solo sang, ankündigt als »rießig großen Neger, der einen verhaut, wenn er nicht vor Sting auftreten darf« — sprach auch der Regenwaldretter schier Unerträgliches: Schon für das schlichtblöde: »Wie geeihts?! Guutt.« sollte man eigentlich die Intelligenzpolizei wegen IQ-Unterschreitung an der Gitarre holen. Also lieber doch nicht denken. Das Dilemma scheint unlösbar: Sting, zu wenig fetzig und zu geschmäcklerisch für die Deutschlandhalle, zu platt für Deutsch-, zu öde für Musiklehrer, zu alt für die Jungen, zu unkultiviert für die Alten. Einzige Rettung: Der Mann muß ins ICC oder am besten gar nirgendwo hin. Denn noch besser als das ICC ist die CD im Wohnzimmer. Da weiß ich dann wenigstens, was ich hab, wer er ist und was ich bin. Riedle