Vermummte, Gene und der Kadi

■ Braunschweiger Richter will mit genetischem Fingerabdruck eine Schlägerei zwischen Neonazis und Autonomen aufklären/ Umstrittenes Beweismittel erstmalig bei einem Prozeß mit politischem Hintergrund

Uwe M. und Uwe P. sind in Braunschweig keine Unbekannten. Sie gehören der neonazistischen Szene an und einer von ihnen ist sogar führender Funktionär der „Nationalistischen Front Südost- Niedersachsen“. Im vergangenen Herbst wandten sich die beiden Rechtsaktivisten an die Braunschweiger Polizei, um Anzeige zu erstatten: Sie seien nach einer Feier in einer Runde Gleichgesinnter von mehreren Angreifern niedergeschlagen und dabei mit gefährlichen Gerätschaften so verletzt worden, daß sie Platzwunden davontrugen. Was die Sache so kompliziert machte: Die Angreifer seien vermummt gewesen.

Die Braunschweiger Polizei kramte hervor, was sie während Hausbesetzungen und Demonstrationen an Fotos von tatsächlichen und vermeintlichen Autonomen der Stadt zusammengesammelt hatte. Und siehe da, Uwe und Uwe fühlten sich in der Lage, drei der Fotografierten trotz der Vermummung als die Schläger zu identifizieren. Die Staatsanwaltschaft klagte wegen gefährlicher Körperverletzung — als Beweis reichte ihr das erstaunliche Identifikationsvermögen der beiden Neonazis. Doch den Amtsrichter verlangte es nach mehr Stichhaltigkeit bei der Beweisführung. Einer der beiden Nazis meinte, im Laufe der Prügelei einen der Angreifer mit seinem Messer erwischt zu haben, und der Amtsrichter verfiel nun ausgerechnet auf eine Methode, die mehr als umstritten ist: den genetischen Fingerabdruck mit dem Blut am Messer durchzuführen.

„Anhaftungen könnten einfach nur Dreck sein“

„Das wollen wir verhindern“, so Jens Vollmer, einer der Rechtsanwälte, gegenüber der taz. Bis zum 29. April hatten die Anwälte Zeit, ihre Stellungnahme beim Amtsgericht einzureichen. „Bisher wurden die Erbgutanalysen in der Bundesrepublik nur bei Kapitalverbrechen und vereinzelt bei Vaterschaftsklagen hinzugezogen. Das hier in Braunschweig könnte ein Pilotprojekt werden, um das Anwendungsgebiet des genetischen Fingerabdrucks auszuweiten.“ Was das Vorpreschen des Amtsrichters in Sachen Erbgutuntersuchung noch hanebüchener macht: Bisher ist noch nicht einmal klar, ob es sich bei den Spuren am Messer tatsächlich um Blut handelt. Dazu der Rechtsanwalt: „Die Anhaftungen könnten auch einfach nur Dreck sein.“

Die Angeklagten wehren sich gegen diese gentechnische Untersuchung, auch wenn sie damit unter Umständen die Möglichkeit verspielen, in den Augen des Amtsgerichts ihre Unschuld zu beweisen. Der genetische Fingerabdruck ist fragwürdig — datenschutz- und verfassungsrechtlich allemal. In letzter Zeit ist das Gen-Tech-Verfahren jedoch zunehmend auch ins Kreuzfeuer der wissenschaftlichen Kritik geraten. Dagegen loben bundesdeutsche Polizeistrategen und Gerichtsmediziner den Fingerabdruck aus den Genen zur Zeit noch über den grünen Klee: Mit ungeahnter Präzision ließe sich anhand winziger Spuren — ein paar Spermien, eine einzige Haarwurzel, ein wenig Blut — feststellen, wer der „Spurenleger“ war.

Dazu muß in einem komplizierten Verfahren das menschliche Erbmaterial zunächst aus den Körperzellen des oder der Verdächtigen sowie aus den organischen Spuren des Tatortes isoliert und dann chemisch in eine Reihe von Fragmenten unterschiedlicher Länge zerlegt werden. Danach werden der aufbereiteten DNA radioaktiv markierte Gensonden zugesetzt, die sich aufgrund chemischer Wechselwirkungen nur an wenigen, ganz spezifischen Stellen des Erbgutes haften bleiben. Das Fragment- Gensonden-Gemisch wird in einem elektrischen Feld aufgetrennt. Legt man dann einen Röntgenfilm auf die Proben, so entsteht dort ein charakteristisches Streifenmuster.

Das ist — zumindestens theoretisch — von traumhafter Individualität für Polizei und Gerichte: Nur in einem von 300 Milliarden Fällen soll es vorkommen, daß die Streifen bei zwei Menschen zufällig übereinstimmen.

Die untersuchten Abschnitte des Erbgutes sind nämlich keine „Gene“, die die Natur möglichst unbeschadet und unverändert zu vererben versucht, sondern sogenannte „sich wiederholende“ oder auch „repetitive Sequenzen“ ohne eigentliche genetische Information. Weil sich die Natur beim Vererben dieser Abschnitte nicht so viel Mühe zu geben braucht, kommt es, daß diese Sequenzen bei jedem Menschen etwas anders aussehen.

Ohne besondere Sicherheitsvorkehrungen

Aber noch etwas läßt die Polizei auf diese Methode einschwören: Die manchmal verschwindend wenige DNA der Tatortspuren läßt sich gegebenenfalls mit der Gen-Tech- Wunderwaffe der letzten Jahre, der „Polymerase-Kettenreaktion“, kurz PCR, verfielfältigen. Spuren zu vermehren — das war bisher nicht möglich. Wo nur ein Tropfen Blut war, konnten Kriminologen auch wirklich mit nur einem Tropfen Blut arbeiten. Wenn die Probe durch die serologischen Untersuchungen verbraucht war, war die Arbeit beendet, auch wenn das Ergebnis unbefriedigend war. Mit Spermien gestaltete sich das polizeiliche Laborieren noch schwieriger, denn mit ihnen ist schon von vornherein weit weniger an chemischen Untersuchungen durchführbar als mit Blut.

Doch zwischen kriminologischem Wunschdenken und der Realität gibt es Diskrepanzen:

— Noch ist nicht klar, ob beim PCR- Verfahren mit dem Erbgut nicht auch Verunreinigungen vermehrt werden, die das Ergebnis verfälschen könnten.

— Man geht bei der Methode von heiklen populationsgenetischen Vermutungen aus; manche Bevölkerungsgruppen sind genetisch einheitlicher durchmischt, als die bisherigen Statistiken es vorsehen. Die Folgen können fatal sein: Vor einigen Jahren wurde in den USA ein Bürger eines texanischen Dorfes, dessen Einwohner alle von einer „Urfamilie“ abstammten, nach einer Genomanalyse unzutreffend als Straftäter überführt und zum Tode verurteilt.

— In den USA klagen Rechtsanwälte und Wissenschaftler immer wieder darüber, wie unsauber, technisch mangelhaft und bar jeglicher Kontrollexperimente die Genomanalysen durchgeführt würden. „Fingerprinting ist not ready for the courtrooms!“ — lautete deshalb ihr Fazit.

Das ficht jedoch die Anwender der Methode hierzulande nicht an: Die Privatgutachter in den USA seien allgemein als schlampig bekannt, meint ein Mitarbeiter der Berliner „Polizeitechnischen Untersuchungsstelle“. Modernere Gensonden und technisch einwandfreies Arbeiten seien hierzulande garantiert. Trotzdem konnten die Bonner Grünen in einer Anfrage im Dezember 1989 darauf aufmerksam machen, daß sich „auch bei den vom Bundeskriminalamt und von den Landeskriminalämtern bisher durchgeführten 30 Testanalysen ... eine rechnerische Fehlerquote von 30 Prozent“ ergab.

Ein weiterer Einwand gegen den genetischen Fingerabdruck stammt aus Veröffentlichungen der jüngsten Zeit: sogenannte „nackte“ oder „freie“ DNA von Viren, die nicht in Eiweißhüllen verpackt sind. Auch die freie DNA von menschlichen Krebsgenen haben sich im Tierexperiment als infektiös beziehungsweise tumorauslösend herausgestellt. Das dazugehörige Experiment hätten sich auch Oberschülern ausdenken können: Britische Wissenschaftler aus Glasgow träufelten rasierten Ratten die DNA menschlicher Krebsgene einfach versuchsweise auf die Haut. Wenige Wochen danach wucherten dort Tumore. Diese Nachricht schlug wie ein Hammer in den Laborschlaf der „scientific community“ in aller Welt ein, die mit freier DNA bisher ohne besondere Sicherheitsvorkehrungen hantiert hatte.

Mit der PCR-Methode nun, die die Erbgutspuren vermehrten soll, werden auch endogene Viren, die sich darin eingenistet haben, vermehrt. Was bedeutet das für das Personal der durchführenden Stellen? Bisher gelten Fingerabdrucklabore, da dort Erbgut nicht von einem auf einen anderen Organismus übertragen wird, nicht einmal als „gentechnisch arbeitend“ und fallen damit auch nicht unter die Sicherheitsbestimmungen des Gentechnikgesetzes. Deshalb taucht möglicherweise das Berliner Labor der polizeitechnischen Untersuchungsstelle auch nicht in einer Auflistung sämtlicher Gen-Tech-Labore der Sicherheitskommission beim Bundesgesundheitsamt auf.

Lückenhafter Gesetzentwurf

Es bleiben die grundsätzlichen Fragen:

— Wer garantiert, ob sich das polizeiliche Erkenntnisinteresse auf Dauer auf die informationsleeren, repetiviten Sequenzen beschränken wird? Gerichtsmediziner jedenfalls zieht es schon seit einiger Zeit zu den „kodierenden Sequenzen“, den Genen, wo sie sich bei der Aufklärung von Verwandtschaftsverhältnissen mehr Aussagekraft erhoffen. Wie weit dürfen Genomanalysen für Gerichtsverfahren gehen? Wird man eines Tages die Schuldfähigkeit oder -unfähigkeit Angeklagter aus den Genen ablesen?

— Wie sieht es mit der Speicherung der Daten aus? Zwar winkt das Bundeskriminalamt ab — „kein Interesse“, aber in Kalifornien werden bereits jährlich die genetischen Fingerabdrücke von über 8.000 „Schwerverbrechern“ in Datenbänken abgelegt, um Wiederholungstäter leichter dingfest zu machen.

Ein Gesetzentwurf, der die Anwendung des genetischen Fingerabdrucks regeln sollte, schlummert seit geraumer Zeit in den Schubladen des Bundesjustizministeriums. Er war von Kritikern ohnehin als lückenhaft und unzureichend geziehen worden, schloß er doch nicht einmal die Analyse kodierender Sequenzen aus. Auf Anfrage der taz beim Justizministerium, wann mit dem Inkrafttreten des Gesetzes zu rechnen sei, lautete die Antwort: „Wir haben das auch immer noch vor. Allerhöchste Priorität hat es aber nicht. Sie müssen wissen: Wir machen hier die Einheit.“ Ohnehin habe der Bundesgerichtshof im September letzten Jahres grünes Licht gegeben und die bisherigen gesetzlichen Grundlagen für ausreichend erklärt.

Ob die Braunschweiger Anwälte mit ihrem Einspruch Erfolg haben werden, ist noch nicht abzusehen. Rechtsanwalt Vollmer: „Sollte die richterliche Anordnung trotzdem erfolgen, überlegen wir, Beschwerde beim Landgericht einzulegen.“ Susanne Billig