Warten auf noch mehr Kapital von jenseits der Meerenge

China: In der Sonderzone Xiamen gegenüber von Taiwan landet bereits jetzt die Hälfte der Auslandsinvestitionen aus der „abtrünnigen Provinz“  ■ Aus Xiamen Tony Wang

Das Inselchen heißt Gulangyu und ist der malerischste Flecken in Xiamen an der Ostküste der Provinz Fujian. Tropische Flora mit Banyanbäumen, Bambushainen und Kokospalmen, versteckte Kirchen, winzige Antiquitätenläden und propere Garküchen lassen eher an Macao oder ein Hongkonger Eiland denken als an China. Ein wenig ist Gulangyu auch Künstlerkolonie, die mehrere bekannte Musiker und Dichter beherbergt.

Erst auf den zweiten Blick blättert der Putz. Buchstäblich, denn viele der oft alten und geräumigen Villen, in denen vor Zeiten Konsulate und Kolonialisten residierten, verfallen. Die Gärten wachsen zu, und das Ambiente ist doch mehr sozialistische Schlamperei als Tropenidylle.

Anfragen und Gebote zahlungskräftiger Einheimischer und Ausländer, sich auf Gulangyu einzukaufen, werden beharrlich ausgeschlagen, und nur hohe Kader dürfen in staatlichen Gästehäusern mit Blick aufs Meer logieren. Wenn abends die letzte Fähre wieder nach Xiamen tuckert, legt sich Stille über die gewundenen Gassen, durchbrochen höchstens vom Zirpen der Zikaden.

Das aber kann bald anders werden. Für den Park am Hafen, ein mehrere Hektar großes Areal mit alten Bäumen und neuem Touristenkitsch, haben sich Interessenten aus Taiwan gefunden. Sie wollen dort einen Vergnügungspark mit Hotel, Restaurants und Nachtbars errichten. Und sie werden wohl den Zuschlag bekommen, denn den erhält in der Wirtschaftssonderzone, wer am meisten anlegen will. Besonders willkommen sind die Landsleute von gegenüber. Anders als die Kapitalismusenklaven im südlichen Guangdong, wo der Zielpartner Hongkong heißt, oder in Zhuhai, wo Investoren aus Macao gefragt sind, öffnet Xiamen seine Tore am liebsten den Besuchern aus der abtrünnigen kapitalistischen „Provinz“ jenseits der Taiwanstraße.

Das rote Xiamen (Amov) ist nur zwei Kilometer von Jinmen (Quemov) entfernt, der nächsten Insel, die zu Taiwan gehört. Seitdem der tägliche Artilleriebeschuß der „Kuomintang-Marionetten“ durch Peking eingestellt wurde und mit der Sonderzone seit 1980 harte Währung, Know-how und modernes Betriebsmanagement ins Land gelockt wurden, hat sich Xiamen zur prosperierenden Insel an der chinesischen Ostküste gemausert.

Zhen Jiaxing, Mitglied der staatlichen Wirtschaftskommission der Sonderzone, spricht gerade euphorisch von den Landsleuten aus Taiwan, die hier ihr Glück machen sollen. Von den rund tausend Betrieben mit Auslandskapital gehört die knappe Hälfte den Taiwanesen. Rund eine Milliarde Dollar haben sie bis Ende 1990 in Xiamen investiert — die Hälfte aller taiwanesischen Anlagen in der Volksrepublik.

Wirtschaftskommissar Zhen sieht noch besseren Zeiten entgegen: „Wir sprechen hier Minnanhua, denselben Dialekt wie unsere Landsleute von drüben. Die Löhne sind wesentlich niedriger als in Taiwan. Und die Taiwanesen fühlen sich in Xiamen an daheim erinnert; mit seinen zur Straße hin offenen Geschäften und den Kolonnaden erinnert das Stadtbild an Taipei — vor 20 Jahren.“

Das hat er nie gesehen, doch will Zhen, daß Taiwan, als Investor einstweilen noch an zweiter Stelle hinter Hongkong, die Nummer eins wird in der Sonderzone. Der stellvertretende Bürgermeister Jiang Ping kommt im dunkelblauen Nadelstreifenanzug und scheint auf dem Sprung zu einer wichtigen Investitionstagung. Wie alle Offiziellen wirbt er vehement um taiwanesische Gelder: „Die werfen hier viel größere Gewinne ab als anderswo, denn Xiamen hat nicht nur niedrige Löhne und billige Rohstoffe, sondern auch genügend Strom.“ Das ist in der Tat eine Rarität in jeder chinesischen Industrielandschaft. Dann preist er die gutausgebildeten Facharbeiter seiner Stadt an.

Frauen dürfen nicht allein ins Ausland

Von denen allerdings sind für moderne Unternehmen kaum welche zu gebrauchen. Die rund 70 Chinesen, die in einem kleinen amerikanischen Betrieb für die Herstellung von Industrie-Steuerungsaggregaten arbeiten, mußten fast alle neu geschult werden — auf Kosten des Arbeitgebers. Als der Manager aus Detroit eine junge Frau und einen Mann zur Qualifizierung in die USA schicken wollte, gab es Schwierigkeiten: Die beiden waren nicht verheiratet und durften nicht fahren. Auch getrennt gab es für die talentierte Technikerin keine Erlaubnis: Eine Frau darf nicht allein ins Ausland.

Mit derart antiquierten Vorstellungen, Bürokratie, Einmischung der Kader und Korruption haben es auch taiwanesische Unternehmen in Xiamen zu tun. Die wundern sich zudem häufig über die fragwürdige Arbeitsmoral und die vielen Versammlungen ihrer Beschäftigten.

Taiwanesen können mittlerweile in drei Industrieparks bauen, die ihnen die 131 Quadratkilometer große Sonderzone eingerichtet hat. Wie alle anderen Anleger zahlen sie eine Einkommensteuer von 15 Prozent und dürfen einen Teil ihrer Produkte auf dem Festland absetzen: Konserven, Meeresgetier, Erzeugnisse der Leichtindustrie und Baumaterialien.

Allerdings sind die Begegnungen der Brüder, die sich in vier Jahrzehnten auseinandergelebt haben, nicht immer schmerzfrei. Vor wenigen Wochen kam es zu einer Auseinandersetzung zwischen Fischern von hüben und drüben, bei der einer ums Leben kam. Schmuggelaffären, Schlägereien und Streits in Unternehmen häufen sich — Recht bekommen zumeist die Einheimischen.

Trotzdem setzt Xiamen auf Expansion und spielt die Taiwan-Karte. Stadtvater Jiang spricht vom leistungsfähigen Hochseehafen und der zweiten Ausbaustufe des Flugplatzes. Von hier aus, sinniert er zukunftsfroh, könnte schon bald die erste Direktmaschine nach Taipei starten, wenn denn nur die Kuomintang ihre Kontaktsperre aufheben würde.

Im Straßenbild sind die Taiwanesen allenfalls an den besseren Fotoapparaten von den Einheimischen zu unterscheiden. Die Fischerdschunken mit dem breiten Heck kommen von drüben, werden wir belehrt, die Besatzungen suchen hier nicht nur Schutz vor den häufigen Taifunen, sondern kaufen ein: Chinamedikamente und Konserven, die hier billiger zu haben sind.

Andere besuchen langvermißte Verwandte auf dem Festland. Rund 350.000 Bewohner Xiamens leben „draußen“, und 70 Prozent aller Taiwanesen sollen ihre Wurzeln in der Provinz Fujian haben. Einige spenden Geld für Schulbauten in der Provinz oder kommen herüber, um hier ihren Lebensabend zu verbringen.

Manch einer will in die entgegengesetzte Richtung. Bis nach Gaoxiong, der nächstgelegenen taiwanesischen Großstadt, sind es nur 156 Seemeilen, für viele Volksrepublikaner ein akzeptabler Fluchtweg. Was wirklich an Verkehr stattfindet zwischen den vielen Inseln auf beiden Seiten, ist schwer auszumachen. Neuerdings aber schickt Taiwan die Flüchtlinge zurück, denn trotz aller Stolpersteine gehen Peking und Taipei wieder aufeinander zu.

Zumindest im luxuriösen Xiamen-Hotel, Zutritt nur in Westkleidung, gibt es kaum noch Berührungsängste: In der Bar wartet ein halbes Dutzend apart betuchter Festlandsdamen aufs Anbandeln. Taxifahrer vermitteln das Geschäft und lassen schon mal den Motor laufen. Die allgegenwärtige Staatsicherheit drückt die Augen zu: Man ist hier tolerant und wartet auf Taiwan.