Ungarns Parteien vor Stabilitätspakt

Ökonomische Misere und Parteienverdrossenheit zwingen die Regierung zu Verhandlungen über gemeinsame Strategie  ■ Aus Budapest Tibor Fenyi

Diese Woche werden die politischen Kräfte Ungarns dem Vorbild des spanischen Moncloa-Paktes, der 1977 zwischen den „Sozialpartnern“ und der Regierung als Stabilitätsabkommen abgeschlossen wurde, nachzueifern versuchen: Opposition und Regierung wollen gemeinsam eine Lösung für die ökonomischen Probleme des Landes finden. Ein Jahrzehnt lang betrachtete man Ungarn als „die fröhlichste Baracke in Osteuropa“ — davon aber ist heute nichts mehr geblieben. Das Land ist in einer totalen politischen Apathie versunken. Die überwiegende Mehrheit der Ungarn glaubt nicht mehr daran, daß das heutige Kabinett oder auch das Parlament die anstehenden Probleme bewältigen könnte. Einer internationalen Erhebung des Gallup- Instituts zufolge sind es die Ungarn, die ihre eigene Zukunft am schwärzesten sehen. Die Soziologen analysieren, daß — sofern ein charismatischer Demagoge auftauchen würde — niemand das Land gegen eine „peronistische“ Diktatur beschützen könnte. Die Enttäuschung resultiert aus der elenden Wirtschaftslage. Die letzten zehn Jahre des Kadarismus waren eine Epoche der Liberalisierung der Politik und eines Rückfalls in der Ökonomie. Besonders rasant verlief die Rezession in den letzten drei Jahren. Ungarn steht vor einem Schuldenberg von 21 Milliarden Dollar, dessen Zinsen zu bezahlen sind. Alljährlich muß das Land der Wirtschaft 2- bis 2,5 Milliarden Dollar entziehen, um die Schuldenlast zu tilgen. Gleichzeitig sind die Ungarn auch schwer enttäuscht: Die Westländer haben ja den Polen einen mächtigen Anteil ihrer Schulden erlassen, sie aber müssen jeden Pfennig bezahlen. Obendrein kommt auch das Kapital aus dem Westen viel langsamer hierher als erwartet... „Ich hatte geglaubt, es werde wirklich geschehen, was die Parteien versprochen haben: Wir werden eine soziale Marktwirtschaft und eine Demokratie haben. Statt dessen ist eine Zeit des freien Raubs angebrochen“, klagte im Fernsehen ein Lehrer der russischen Sprache, der seinen Posten verloren hat und sich in einer völlig aussichtslosen Lage befindet. Nicht nur deshalb, weil keine Nachfrage für diese Sprache mehr besteht, sondern weil er kein Geld hat, um sich beispielsweise zu einem Englischlehrer umzumodeln. Aber auch die Schule kann ihm nicht helfen: Jede Woche müßte er zweihundert Kilometer reisen, um die Universität zu erreichen. Auch das Kabinett ist nicht in der Lage, die Umschulung zu finanzieren — in den ersten drei Monaten dieses Jahres hat sich die Zahl der Arbeitslosen verdoppelt. Gesteigert werden die Spannungen dadurch, daß gleichzeitig eine bestimmte Schicht in Ungarn einen ansehnlichen Reichtum angehäuft hat. Die Neureichen protzen mit ihrem frischgebackenen Reichtum im Stil von Dritte-Welt-Potentaten. Inzwischen erhalten die Schüler in Budapest Dank der Hilfe einer USA-Stiftung je ein Glas Milch: Man mußte erkennen, daß mehr als ein Fünftel aller Kinder nichts zu frühstücken hatte. Das Kabinett debattiert jetzt mit der Opposition über ideologische Fragen. Etwa darüber, wie das ungarische Wappen aussehen soll: Darüber fielen viel mehr Worte im Parlament als über die Umgestaltung der Wirtschaft. Janos Tardos, der namhafteste Volkswirt in Ungarn, erklärt, die erste Gesetzesvorlage, die etwas mit der Ökonomie zu tun hatte, sei erst acht Monate nach Regierungsantritt vorgelegt geworden. Ganz offensichtlich ist die heutige Koalition unfähig, die Krise zu überwinden; Ministerpräsident Antall erklärt jedoch immer wieder, es könne keine Rede von einer Umstrukturierung des Kabinetts wie auch der Koalition sein. Es waren diese Fakten, die den Verband Junger Demokraten (FIDESZ) zu dem Vorschlag veranlaßten, die sechs Parteien des Parlaments sollten einen ungarischen Moncloa-Pakt zustande bringen. Jetzt sagte Premier Antall sofort Ja. Für den 30. April hat er jeweils drei Vertreter der Parteien zusammengerufen, um die aktuellen Wirtschaftsprobleme zu besprechen. Die Freien Demokraten und die Sozialisten beteiligen sich nicht besonders begeistert an diesem Pakt. Sie vertreten die Meinung, auf diese Weise würde einzig das Leben des ungeeigneten Kabinetts verlängert werden, die Opposition jedoch könnte nicht davon profitieren. „Wir müssen die Verantwortlichkeit für die unbeliebten Wirtschaftsmaßnahmen auf uns nehmen, obwohl wir in der Opposition sind — dies aber ist vollkommen absurd“, erklärt Ivan Petö, Fraktionsleiter der Freien Demokraten. „Schließlich werden sie aber sehr wahrscheinlich doch an den Gesprächen teilnehmen. Sie sehen ja, daß die Bevölkerung die Nase voll hat; wenn es nicht gelingt, diese Stimmung zu verändern, dann könnten jeden Augenblick unvorsehbare Prozesse ablaufen. Das aber würde nicht nur die Regierungskoalition, sondern die gesamte Demokratie in Ungarn zunichte machen...“