SHORT STORIES FROM AMERICA

■ Meine Lieblings-Reagan-Statistik

Nancy hat also Weihnachtsgeschenke weiterverschenkt. Wofür die Aufregung, jetzt wo wir es wissen, jetzt wo alles vollkommen klar ist? Tun wir das nicht alle? Wer würde geblümte Plüschhausschuhe nicht loswerden wollen? Haben wir uns nicht alle reizende Ausflüchte aus den Fingern gesogen, um Mom und Dad bei ihrem Besuch zu erklären, warum wir sie nicht tragen? („Mom, sie wurden direkt aus dem Trockner geklaut...“) Haben wir nicht alle mit dem Sweater von Tante Tilly, in dessen Muster kleine Tiere und Jäger eingestrickt waren, selbst ein wenig Recycling betrieben? Ist es nicht das Menschlichste, das Netteste überhaupt, was wir je von Nancy gehört haben, daß sie Weihnachtsgeschenke weiterverschenkt?

Ein oder zwei Züge Marihuana während ihrer Anti-Drogen-Kampagne waren ebenfalls ein netter Zug von ihr. Das „Sagt einfach nein“ hat sie isoliert: Es entfremdete Nancy von den Leuten. So stand sie da und verstand angeblich nicht, warum „nein“ zu sagen einem Dreizehnjährigen nicht weiterhilft, der in irgendeinem Stadtteil von Detroit, den sie nicht von Beirut unterscheiden kann, zwischen Bandenkriegen aufgerieben wird. Wo wir nun wissen, daß ein klitzekleiner Teil von ihr high war, daß ein klitzekleiner Teil von Ronnie high war! Die empörte Presse liegt falsch: Kitty Kelly's Buch ist keine Beleidigung. Es ist der Freispruch.

Sicher wird Nancys angebliche Affäre im Weißen Haus ihr Image verbessern. Es verleiht ihr Gefühl und Begierde, selbst in einem so unwahrscheinlichen Fall wie Frank Sinatra. Es zeichnet sie mit Leidenschaft, mit Hingabe aus — und das ist eine Verbesserung gegenüber der kalten Aufsteigerhexe, oder? (Vielleicht hat doch Dan Wasserman von 'The Boston Globe‘ recht: vielleicht behaupten sie auch nur, Nancy habe Dope geraucht und eine Affäre mit Frank Sinatra gehabt, um die Kids von den Drogen fernzuhalten.)

Traurig aber wahr, die Medien — einschließlich der Titelgeschichten von 'Time‘ und der 'New York Times‘ — liegen verkehrt: Kitty Kellys Buch ist nett. Ich verstehe nicht, warum die Presse sich so darüber aufgeregt und nicht über ein, zwei andere Dinge aus den Reagan-Jahren. Warum geraten sie zum Beispiel nicht darüber aus der Fassung, daß 20 Prozent der amerikanischen Kinder nach dem Ende von Reagans Amtszeit unterhalb der Armutsgrenze leben? Sicher setze ich meine Prioritäten anders — aber kümmert es uns nicht viel mehr, wie viele Vogelkäfige Marie Antoinette in ihrer Perücke balancieren konnte, als wie viele Kinder unter ihrer Herrschaft hungerten? Das ist so, und ich bin dumm. Aber könnten die Medien nicht ein bißchen ihres Zorns über falsche Weihnachtsgeschenke an Amerikas ärmste Familien weiterleiten, die unter Reagan einen Einkommensrückgang von 10,5Prozent verkraften mußten, während das Einkommen der reichsten Familien um 74 Prozent gestiegen ist?

Meine Lieblings-Reagan-Statistik besagt, daß unter seiner Fürsorge die Lebenserwartung schwarzer Menschen in Harlem unter die der Menschen in Bangladesh sank. Das ist ebenso verwunderlich wie das künstlerische Überleben von Sinatra.

Unter Reagan und nun unter Bush geben die Vereinigten Staaten einen doppelt so hohen Teil ihres Bruttosozialprodukts für Militärausgaben aus als in anderen Industrienationen üblich. Sie verwenden nur halb soviel auf nichtmilitärische Ausgaben. Der nichtmilitärische Anteil am Gesamtbudget (Zinszahlungen und Sozialversicherung ausgenommen) beträgt vier Prozent.

Während die armen Kinder derzeit immer ärmer werden, strichen Reagan und Bush die Mittel für gynäkologische und vorgeburtliche Vorsorge für Frauen mit niedrigem Einkommen (das bedeutet eine Einbuße von 20 Millionen Dollar und von 1.000 Kliniken seit 1980). Sie hindern die Weltgesundheitsorganisation daran, amerikanische Gelder für die Abtreibungspille RU-486 einzusetzen, obwohl sich die Weltbevölkerung bei dem derzeitigen Größenwachstum bis zum Jahr 2035 verdoppeln wird, wovon 90 Prozent auf die ärmsten Länder der Welt entfallen (wo das Bruttosozialprodukt pro Kopf weniger als drei Prozent dessen Amerikas beträgt). Reagan und Bush haben den Import der RU-486 in die USA verhindert, sogar für Forschungszwecke.

Bush ließ eine Bürgschaft über 25 Millionen Dollar platzen, die armen Ländern den Umstieg von dem Ozonkiller FCKW auf harmlosere Chemikalien erleichtern sollte, obwohl die angesehene Akademie der Wissenschaften im April mit der Nachricht herauskam, daß die globale Erwärmung, die im vergangenen Jahrhundert noch zwischen 0,3 und 0,6 Grad Celsius betrug, auf 1 bis zu 5 Grad Celsius ansteigen kann.

Die Nationale Luft- und Weltraumbehörde sowie verschiedene Umweltschutzinstitutionen haben ebenfalls im April berichtet, daß das Ozon mehr als doppelt so schnell schwindet, wie man geglaubt hat. Selbst wissenschaftliche Belege hinderten Reagan nicht daran, die von Ex-Präsident Jimmy Carter in Gang gesetzten Konservierungsmaßnahmen zu demontieren. Und es hindert Bush nicht daran, ein Energiegesetz anzugreifen, das einen Maximalverbrauch von 8,7 (statt bisher 10,3) Litern auf 100 Kilometern vorschreibt.

Statt den Benzinverbrauch zu senken, will Bush den Schutz der Arktis zum Zwecke der Ölförderung untergraben, was mit deren Bedeutung für die Umwelt nicht recht im Einklang steht. Ich hoffe, er hat es nicht so gemeint. Ich hoffe, er hat das nur gesagt, um die Kuwaitis zu erleichtern, die täglich sechs Millionen Barrel Öl, das noch immer am Persischen Golf brennt, ihre Umwelt zerstören sehen. Das sind über 30 Millionen Tonnen Rauchausstoß pro Jahr. Der Irak hatte angekündigt, die Ölquellen anzuzünden, falls Bush den Krieg beginnen würde, aber es scheint, als hätte Bush diesen Faktor außer Betracht gelassen, als er die Kriegsrisiken gegenüber den ökonomischen Sanktionen abwägte. Ist das nicht ebenso verwunderlich wie Nancy, die sich einen Joint anzündet?

Mir scheint folgendes von internationaler Tragweite: Was fängt Mrs. Kelly jetzt, wo sie ihren Tratsch losgeworden ist und wir ihn begierig aufsaugen, mit dem Geld an? Ihre Verleger können die Regale kaum füllen. Sie hat sicher schon genug von diesen Fummeln, die sie so gern trägt. Ob sie wohl an einer kleinen Investition interessiert wäre, vielleicht ein Strand in Vietnam? Ich habe im 'Time Magazine‘ gelesen, daß die Regierung unglaublich knapp bei Kasse ist und private Investoren sucht. Leider rufen solche Strände bei Amerikanern so ungute Erinnerungen herauf — so viele braune Arme, die mit Banknoten winken und sich an Hubschraubern klammern. Keine sehr wahrscheinliche Investition.

Vielleicht ist die Treuhandanstalt ein passenderes Objekt. 'Time‘ erwähnte, daß auch sie nach Kapital Ausschau hält. Europäische Investoren waren träge, und die Tracht Prügel, die Mr.Kohl in Rheinland-Pfalz bezogen hat, wird ihm gezeigt haben, was die Deutschen von Steuererhöhungen zur Sanierung der 6.800 ehemaligen ostdeutschen Betriebe halten, die sich noch in der Hand der Treuhand befinden.

Was für die deutsche Regierung nicht funktionierte, gelingt vielleicht der einträglichen und abschreibungswilligen Mrs.Kelly. Kohls Fehler bei der Treuhandanstalt ist, daß er nicht auf Verluste aus ist. Übernähme Mrs.Kelly sie, würde sie Steuern sparen und gleichzeitig ihren Ruf als Wohltäterin begründen. Das Beste ist, daß Mrs.Kelly wie die meisten in den Staaten aufgewachsenen Amerikaner mit Europa, anders als mit Vietnam, keine Erinnerungen verbinden.

Aus dem Amerikanischen von Sabine Seifert

MEINELIEBLINGS-REAGAN-STATISTIK