Noch nicht das letzte...

■ Das Ostberliner Kabarett „Die Distel“ kämpft ums Überleben

Seit 38 Jahren gibt es „Die Distel“, seit zwei Jahrzehnten zierte das Schild „ausverkauft“ die Tür des 420-Plätze-Kabaretts am Bahnhof Friedrichstraße. Im Herbst vergangenen Jahres entschied der Magi-Senat: Die Distel wird abgewickelt. Lachen im Saal; doch den hinter den Kulissen Beteiligten blieb das Lachen im Halse stecken. Es wurde weiter gespielt und gegrübelt, gerechnet, gestritten: Wie kann aus dem vom Magistrat finanziell versorgten Kabarett eine GmbH werden?

Daß der Senat weder in der Lage noch gewillt ist, die Distel weiterhin mit jährlich 1,7 Millionen Mark (bei 800.000 Mark Einnahmen) zu subventionieren, stand fest. „Und die mir teuren Kollegen im damaligen Westdeutschland haben ja schon immer lachend gefragt, wie man unter DDR-Staatsschutz politisch-satirisches Kabarett machen könne“, erinnert sich Dr.Gisela Oechelhaeuser. Sie ist seit 15 Monaten Intendantin der Distel, Kabarettistin schon seit 25 Jahren. „Außer in Ossiland“, meint sie, „gibt es im deutschsprachigen Kulturraum keine staatlich finanzierten Kabaretts — das sind alles Privatbetriebe. Und das erscheint mir auch logisch.“

Logik allein macht's nicht. Vier Leute bringen nun den Mut auf, ihr Geld in die GmbH zu stecken: Die Intendantin, der Autor-Regisseur- Darsteller Peter Ensikat, die Frau vom Tresen, Brigitte Köppe, und der ökonomische Leiter Norbert Dahnke. Ab 1.August wird die Distel auf eigene Rechnung spielen.

„Uns gab's nur einmal“, steht zur Zeit allabendlich auf dem Programm. Von den neun Musikern und Schauspielern haben fünf den „blauen Brief“ bekommen. „Nach der Kündigung war es fast unerträglich zu spielen“, sagt die Schauspielerin Hanne-Lore Erle. „Aber wenn man nun auf der Bühne steht, da kommt der alte Clown durch, das Zirkuspferd. Vielleicht kann ich freischaffend...“ Seit 26 Jahren arbeitet sie hier; für den Vorruhestand fühlt sie sich zu jung. Nun will sie vor Gericht gehen — vielleicht kommt wenigstens eine Abfindung heraus. Hanne-Lore Erle hat manche Tiefs und viele Hochs der Distel miterlebt: „Die Textbücher haben wir immer erst bekommen, wenn das Programm vom Magistrat und der SED- Bezirksleitung ,abgenickt‘ war. Vor den Generalproben kamen die Genossen immer noch mal, weil es sich ja lesend anders darstellt als gespielt. Und manche Szene mußte noch geopfert werden.“

Als Vorzeigeopposition war das Kabarett beim Publikum unvorstellbar beliebt. Um bei der Distel Karten zu ergattern, brauchte man gute Beziehungen oder mußte sich stundenlang anstellen. 1976 wurde auf Magistratsbeschluß eine zweite Spielstätte eröffnet, weil Wartezeiten für Distel-Karten schon drei Jahre betrugen. Trotz Zensur und Sklavensprache.

Otto Stark, aus Wien über Dresden nach Berlin gekommen, war über 20 Jahre Direktor der Distel. Das war nur möglich, weil er bereit war, Kompromisse zu machen: „Was man nicht mehr sagen kann — wird gesungen. Was gesungen immer noch zu hart klingt — wird vertanzt.“ Und dann gab's da noch den „Neger“-Trick. Die Kabarettisten lancierten eine Nummer ins Programm, die künstlerisch nicht bedeutsam, politisch aber eine Provokation war. Bei der Abnahme wurde dann stundenlang über diesen „Neger“ diskutiert. Wesentlichere Texte blieben unbemerkt und kamen durch.

Hart griff das ZK der SED im Herbst 1988 durch: Ein ganzes Programm — „Keine Mündigkeit vorschützen“ — wurde nach der öffentlichen Generalprobe (20 Minuten Standing ovations) nicht zur Premiere zugelassen. — Andererseits trat die Distel alljährlich auf, wenn Erich Honecker seine Treffen mit den 1.Sekretären der SED-Kreisleitungen veranstaltete. In diesem internen Kreis war scharfe Satire gestattet. Und um den 7.Oktober herum — den man als Nationalfeiertag in jeder Brigade feierte — haben sich die Distel-Darsteller totgetingelt. Diese Zeiten sind vorbei: Frauentagsfeiern und Aktivistenfeten gibt's nicht mehr — und damit keine Nebenverdienste für die Darsteller und Musiker.

Für solche kleinen Geschäfte bliebe unter den neuen Bedingungen sowieso weder Zeit noch Kraft. „Wir kämpfen ums Überleben wie Anfänger, obwohl wir auf dem Zenit unserer Leistungsfähigkeit sind — das ist absurd, aber es geht ja vielen Ossis so“, sagt Gisela Oechelhaeuser, die eine scharfe Gangart anschlägt: Von den ursprünglich 63 Festangestellten, die inzwischen schon auf 50 abgeschmolzen wurden, werden nur 20 Leute bleiben. Natürlich die Fähigsten. „Im Schauspielensemble kann der bleiben, der — wenn alle neben ihm umfallen — notfalls den ganzen Abend allein trägt. Ausschließlich Solisten — Chorsänger gibt es nicht mehr. Und das gilt für alle Gewerke.“

Die Chefin ist ein Arbeitspferd; in den letzten Wochen gab es täglich zwei Proben. Am 11.Mai hat das letzte Programm vor der endgültigen Abwicklung Premiere: Wir sind das letzte... Die Intendantin führt mit Peter Ensikat Regie, sie spielt auch selbst. Daneben liefen die Proben für den „Scharfen Kanal“, der alle acht Wochen sonnabends live über die DFF-Länderkette geht. „Der Zwang zum schnellen Lernen und Produzieren, der Zwang zur Tagesaktualität, ohne die es auf dem Bildschirm nicht geht, das fordert und ist gut für uns“ — so O-Ton Frau Oe. Auch die Tourneen und die Blitzauftritte — schnell mal für einen Abend nach München, das ist noch immer was Besonderes — bringen Geld und machen das Ost- Kabarett im Westen bekannter. „Früher waren wir als Exoten interessant — daß es in der DDR überhaupt politische Satire gab, war ja landläufig nicht bekannt. Jetzt gibt es nur noch einen Markt, aber ich glaube, wir haben da schon unseren Platz“, meint die selbstbewußte Distel-Prinzipalin.

Die Eintrittspreise haben sich inzwischen vervierfacht und werden weiter steigen. „Gute Livekunst kann nicht billiger als eine Kinokarte sein“, argumentiert die Intendantin. Vor der „Wende“ hatte die Distel mit 99,8 Prozent eine Traumauslastung. Heute bleiben im Wochendurchschnitt fast 30 Prozent der Plätze unbesetzt. Leider, auch wenn Fraue Oechelhaeuser meint: „Wenn man mal richtig unter Gleichgesinnten gelacht hat, ist man dem Leben einfach besser gewachsen.“

Constanze Pollatschek