Fliegende Holländer

Gespräche über das Wohnen als Provisorium mit zwei Männern (M1 in der S-Bahn, M2 im Paternoster des SFB) und einer Frau (F in der Staatsbibliothek, West-Berlin)  ■ Aufgezeichnet von Marianne Karbe und Ursula Oberbeckmann

M2: Eigentlich würd' ich am liebsten ganz spartanisch wohnen, das heißt in leeren Räumen: ein Tisch, ein Computer, ein Stuhl, ein Bett und dann so ein paar Sachen, die man halt ständig braucht. Aber leider nehmen die Dinge, die man besitzt, immer mehr Platz und Energie in Anspruch.

Wohnen ist für mich halt was Provisorisches. Ich mein', ich wohn' gern in Räumen, ich geh' auch nicht gern zelten, auch nicht im Urlaub. Ich hab das gern: richtig feste Wände um mich rum und 'n richtig festes Dach oder 'ne Decke; aber innerhalb dieses Rahmens möcht' ich gern alles so wenig fest wie möglich haben, so flexibel und so provisorisch wie möglich...

M1: Das Leben als Provisorium: Ich weiß nicht, ob das nicht 'ne Generationserfahrung ist, die wir alle gemacht haben, also diese Generation, die jetzt 30- bis 40jährigen. Ich erleb' das Leben und erst recht das Wohnen immer so als provisorisch.

M2: Ich versuch' beim Wohnen immer Mobilität und Seßhaftigkeit zu verbinden oder wenigstens den Anschein von Mobilität zu bewahren, mir die Möglichkeit zu bewahren, alles schnell ändern und abbauen zu können...

M1: Damals haben wir noch versucht, so Räume aufzulösen, also jeder hatte zunächst 'nen Privatraum, und dann hatten wir uns gedacht: Wir machen jetzt mal so Funktionsräume. Ich glaub', das haben wir damals alle gemacht, ne? Und dann haben wir zu sieben Personen in einem Raum miteinander geschlafen, da war'n ja auch die Zweierbeziehungen aufgehoben, und alles war freie Beziehung zur gleichen Zeit. Und das ist natürlich innerhalb von acht Wochen gescheitert.

Ich bin dann ganz häufig umgezogen, jedes halbe Jahr. Von Köln aus wollt' ich zunächst nach Frankfurt ziehen. In Frankfurt bin ich in 'ne Buchhandlung rein, wollt' mir den 'Pflasterstrand‘ holen, um zu sehen, ob da nicht Wohnungsanzeigen waren, fand ich aber keine, fand nur das Buch Anders reisen — Amsterdam. Da hab ich gedacht: Amsterdam ist auch nicht schlecht und hab' mich in 'nen Zug gesetzt und bin am nächsten Tag nach Amsterdam gefahren... Ich hab' tatsächlich keine große Lust, hatte auch nie Lust, mich um irgendwas zu kümmern, also das Ideal wäre für mich: Ich komm in 'ne Wohnung rein und da steht... Naja, 's muß schon keene Mikrowelle sein, aber vom Herd bis zur Waschmaschine alles drin, und ich nutze es einfach, ne? Und dann geh' ich raus und überlaß' das den nächsten Leuten, die dann hinterher reinkommen. Das wär' so mein Ideal.

F: Ich weiß nicht, ob die persönliche Habe oder der „Gerätepark“ immer größer wird, die Geräte werden ja auch immer kleiner. Es ist nur die Frage: Braucht nun jeder diese Geräte, oder gibt's vielleicht sowas wie Tankstellen oder Geräteanschlußmöglichkeiten, die mehr oder weniger öffentlich zugänglich wären?

M2: Ich mach' gern Feuer, und ich hab's gern, wenn's dann so langsam warm wird und wenn man immer mal aufstehen kann und Kohlen nachlegen oder im Ofen rumstochern oder irgendwas machen kann, das ist eigentlich sehr angenehm. Was ich nicht so schön finde, ist, daß es halt 'n Haufen Asche gibt, daß die Asche staubt und man das alles dann wieder raustragen muß.

F: Ich denke, die Tendenz geht immer mehr zu einer Verlagerung der privaten Räume in die öffentlichen Räume, oder dem allgemeinen Grad der Vergesellschaftung des Lebens entspricht es, immer mehr Lebensfunktionen in die öffentlichen Räume auszugliedern. Die Nutzung öffentlicher Räume setzt ja eine Überflußökonomie voraus. Aber man könnte das auch nicht nur unter dem Gesichtspunkt von Überflußökonomie denken, sondern einfach unter dem der Umverteilung: Wenn also an etlichen Stellen Geräte oder Fernseher oder weiß der Teufel, was man braucht, nutzbar sind, braucht man das zu Hause nicht mehr, man braucht's nicht in die eigenen vier Wände zu schleppen. Also in etwas größerem Maßstab gedacht, würde das eigentlich nur eine Umverteilung und vielleicht sogar ein Geringerwerden des materiellen Einsatzes bedeuten. Voraussetzung dafür ist natürlich, daß es nicht darum geht, die Leute zu bescheiden, um das, was sie brauchen, was sie für sich brauchen: Sammlung, also auch Wahrung der eigenen Person, Wahrung der Identität, Wahrung auch der Intimität. Es müßte eigentlich möglich sein, diese Zonen oder Freiräume, die jeder braucht, in den öffentlichen Raum einzubinden. Also ich stelle mir das, das Leben in öffentlichen Räumen, nicht als ein Leben in Armut vor, sondern ich denke es mir eher als ein Erschließen von zusätzlichen Möglichkeiten. Es gibt so etwas wie eine Urform der Überschneidung des sehr intimen Raumes und des gemeinschaftlichen Raumes: die Kathedrale. Sie bildet den Raum, der allen und zugleich niemandem gehört. Ein Raum der Sammlung und zugleich ein Raum der Intimität, institutionalisiert im Beichtgestühl, in das jeder hereintreten kann, was von jedem in seiner ihm sehr persönlichen Weise genutzt werden kann.

Die psychoanalytische Couch, die man vielleicht heute mit Michel Foucault neben den Beichtstuhl setzen könnte, ist natürlich genau das Gegenbild: Es ist die totale, ganz individuell sich vollziehende Aneignung über den Tausch von Rede und Geld, eine sehr aufs Private zielende Institution.

M1: Ich bin neulich zum ersten Mal in ein bekanntes schwedisches Möbelhaus gegangen: Das hab' ich so als Initiationsritus begriffen, also wie man früher in der katholischen Kirche seine Firmung bekommen hat, die erste heilige Kommunion — so bin ich hier das erste Mal in ein Möbelhaus und kauf' mir da was, folglich bin ich jetzt ein Teil der bürgerlichen Gesellschaft oder sowas. Aber ich glaub', es gibt 'ne ganze Reihe dieser Initiationsriten in der bürgerlichen Gesellschaft, in dem, was ich jedenfalls als solche bezeichnen würde. Während ich also ständig Wohnraum wechsle, hab' ich zum Beispiel mein Bankkonto immer an der gleichen Stelle.

F: Ja, mir fiel die Renaissance ein, die Kathedralen, die italienischen Piazzen als Orte, wo es diesen öffentlichen Raum mal wirklich gab. Das gab es also schon mal in einer anderen Weise als heute in der Fußgängerzone, denn die ist ja kein Ort, an dem man sich trifft, nur ein Ort, wo man sich die Schaufenster anguckt und kauft. Sie hat keine Austauschfunktion mehr. Und vielleicht sollte man sich fragen, wodurch der öffentliche Raum unserer Städte in den letzten Jahrhunderten beschnitten worden ist...

M1: Als ich neulich 'nen Film sah, der in Alexandria spielte, fragte ich mich: Warum sitz' ich hier? Warum bin ich nicht dort? Die Bilder, die lockten so fort, man sieht eine Straße und will dann gleich selber um die Ecke biegen, aus der großen Straße raus, um zu sehen, was dann daneben ist. Gerade in guten Momenten möcht' ich eigentlich alles verlassen, hinter mir lassen und in neue Städte eindringen. Ich sitz' zum Beispiel an Frühjahrsnachmittagen im Café und seh' mich plötzlich in einer ganzen Reihe anderer Städte. Ganz oft bin ich innerlich regelrecht wütend darüber, daß ich nicht zur gleichen Zeit in sieben, acht, neun unwirklichen Städten sein kann. Ich versteh' auch nicht, warum das nicht möglich sein sollte, also mein Ideal wär' zum Beispiel eine Reihe von sehr netten Leuten zu kennen, die in den großen Städten Europas Wohnungen haben und sie zur Verfügung stellen.

F: Durch die Entwicklung der neuen Medien, der Technik überhaupt, verändert sich eigentlich auch das, was man früher nur „zu Hause“ machte. Es ist ja heute auch technisch möglich, daß man das Abfragegerät für seinen Anrufbeantworter immer in der Tasche hat. Da wär' also 'ne Tendenz, daß Räume, öffentliche Räume eigentlich wieder belebt werden, weil man ein Teil von dem, was sein „Eigentliches“, sein „Eigenes“ ist, mitschleppen kann: in Form eben dieses Abfragegeräts, in Form der Erreichbarkeit. Und das macht dann gewissermaßen mobil. Doch was ist denn noch das „Eigene“? Vielleicht nicht mehr der Raum, sondern die Zeit, die man möglichst ökonomisch verwendet.

M1: Jemand, der ein vollkommen unstrukturiertes Leben führt, braucht jedenfalls immer noch 'ne Ordnung, also erst mal abstrakt: die Zeit und den Raum. Zeit: In den ersten Wochen, die ich in Amsterdam war, ging ich Freitagnachmittags in die Stadtbibliothek, holte da ganz viel Literatur, die ich um mein Bett gestapelt und dann neue deutsche Literatur gelesen hab'. Das war eine Zeitunterteilung: Am Wochenende machste die Literatur. Und die Raumunterteilung war so, daß ich ganz schnell zwei, drei Anhaltspunkte in der Stadt brauchte: Cafés, ich hab' meistens ein Stammcafé, in Amsterdam war es das Café „Weltschmerz“.

Ich hab' „Wintercafés“ und „Sommercafés“, Cafés, in denen man sich im Winter eben auf keinen Fall aufhalten kann, die aber im Sommer faszinierend sind und umgekehrt.

M2: Also ich kenne auch Zeiten, wo ich es nicht aushalte allein zu sein, wo ich es meide, in meine Wohnung zurückzukehren, wenn ich erst mal draußen bin, und wenn ich drin bin, irgendeinen Vorwand suche, um wieder rauszugehen: ins Café oder auch auf die Straße oder ins Kaufhaus oder irgendwohin, um nicht zu Hause sein zu müssen.

M1: Dann bin ich dauernd umgezogen, zwischendurch hab' ich meinen Koffer ins Schließfach gestellt. Dann hatte ich wieder 'ne Wohnung und habe in der auch Monate gelebt. Die beengte sich zusehends, weil ich mehr und mehr Bücher gekauft hatte und alles zustellte: Irgendwann konnte ich nur noch durch meine Wohnung staksen.

Und dann hab' ich zufällig in 'nem Café einen jungen Mann getroffen, der sagte, er hätte sich 'ne ganz große Fabriketage gemietet, die müßte ausgebaut werden, da wär' nichts drin, da wär'n keine Räume drin, die wär' deswegen genau das Richtige für mich. Na, und dann bin ich da eingezogen. Dann hab ich erst mal statt des beengten Raumes so 'nen Riesenraum um mich herum gehabt, wo gar nix war: keine Toilette, kein Telefon, was ich dringend brauche, und keine Heizung. Wenn ich morgens früh zur Arbeit ging, dann mußte ich zunächst ins Café, um mich auf der Toilette ein bißchen frischzumachen, und dann konnt' ich abmarschieren zur Arbeit. Das war vielleicht der Höhepunkt meiner ganzen Wohnungskarriere.

F: Die Architekten geben in dem, was sie bauen, eigentlich schon die Nutzung vor. Dadurch versperren sie einem ein bißchen die Phantasie, wie man Räume anders nutzen könnte. Das heißt, heute sind die Räume des persönlichen Lebens — die Räume der Intimität — auf die vorhandenen Wohnungen festgelegt und durch die Funktionsbereiche darin vorgegeben. Doch vielleicht könnte man diesen vorgegeben Rahmen sprengen und sich Wohnformen überlegen, die sich außerhalb der Wohnung abspielen: Es gibt zum Beispiel schon etliche Auslagerungen des Lebens, des Arbeitens, des Essens. Und warum sollte es nicht auch möglich sein, öffentliche Räume so zu bauen und die Infrastruktur so zu gliedern, daß selbst Kernfunktionen des Wohnens, wie zum Beispiel Schlafen, Sich-Anziehen, Körperpflege, ausgegliedert werden könnten? Und zwar in einer anderen Weise als bei den Obdachlosen, wo das zwangsweise geschieht: auf eine demütigende Weise, die die Menschen auf eine Armut festschreibt, insofern sie sie der Intimität beschneidet. Vielleicht wäre es möglich, Ausgliederungen so vorzunehmen, daß auch in öffentlichen Räumen noch Bereiche der Intimität bewahrt werden können. Ein Vorbild sind hier etwa die öffentlichen Bibliotheken, in denen es möglich ist, in einem öffentlichen Raum jedem einzelnen Bereiche zu geben, in denen er abgeschlossen arbeiten, sich konzentrieren und sammeln, wo sein Auge verweilen kann.

M1: Aber es gibt auf jeden Fall 'ne Verführung des nichtbürgerlichen Lebens. Meine Unstetigkeit hängt damit zusammen, daß ich einfach rumstrolchen möchte, das heißt: Wenn ich durch Straßen geh', mach' ich jedes Mal aufs neue Entdeckungen, sehe Leute, mit denen ich Kontakt aufnehmen möchte; und manchmal hab' ich eher so etwas wie 'nen Kriminalfilm im Kopf: Ich verfolge jemanden, allein, um zu sehen, welchen Weg er einschlägt usw. Dieses „Rumstreunen“ ist im kleinen, im Kiez möglich; und es ist im großen möglich: Das wäre dann eine Bewegung von Stadt zu Stadt. Was meine Unstetigkeit betrifft, dafür hatte ich einen Lieblingsbegriff: den „fliegenden Holländer“. Kennste die Geschichte vom fliegenden Holländer? Der fliegende Holländer ist ja verflucht, lebenslang, und zwar ein ewiges Leben lang, über die Meere zu rauschen, ohne irgendwo fest bleiben, auch nicht sterben zu können. Und es gibt 'ne Lösung, daß 'ne Frau, die ihn lieben würde, ihn erlösen könnte. Von dieser Geschichte gibt's 'ne Variation bei Heinrich Heine, die lautet: Er hätte dann tatsächlich diese Frau gefunden, eine Woche mit ihr auf dem Land verbracht und sich dann doch lieber wieder für das unstete Leben entschieden... Diese Unstetigkeit hat natürlich auch was mit Verliebtheit zu tun. Ich vergleich' es immer wieder: In 'ne neue Stadt zu kommen, in 'ne neue Wohnsituation zu kommen, ist so was wie Verliebtheit, das heißt, man entdeckt ganz viel, man ist dauernd auf der Suche und guckt und ist bereit, alle möglichen Dinge aufzunehmen. Und nach 'ner gewissen Zeit läßt dann die Verliebtheit in die Stadt nach und wird abgelöst durch festere soziale Konstellationen. Du weißt, wo du hingehörst, kennst die Leute, mit denen du zu tun hast usw. Im gleichen Zeitraum läßt aber diese Aufmerksamkeit für die Stadt nach, wie ja zum Beispiel auch die Verliebtheit nachläßt und in eine Liebe übergeht. So ähnlich verhält es sich bei Städten. Vielleicht braucht man diesen Reiz des Verliebtseins immer wieder aufs neue.