KOMMENTARE
: Selbstbeschäftigung

■ Zum Clinch zwischen den Bonner Koalitionspartnern

Das Tabu bleibt wirksam. Noch in der heillosen Rette-sich-wer-kann-Veranstaltung, die derzeit zwischen den Bonner Koalitionsparteien aufgeführt wird, trauen sich die Kontrahenten nicht, das entstandene Chaos beim Namen zu nennen. Pikant sind die gegenseitigen Schuldzuweisungen trotzdem; nicht nur deshalb, weil sie dem triumphalen Schulterschluß des Einheitsjahres so unvermittelt folgen, sondern weil die Vehemenz der Anwürfe noch immer durch die vage Hoffnung gebremst scheint, die Folgen der gescheiterten Politik ließen sich weiterhin beschönigen, die Kosten des Va-banque-Spiels noch schnell auf die Mitspieler abschieben. Theo Waigel etwa, als Finanzminister selbst tief im Schlamm, unterstellt der Schwesterpartei „mangelnde Orientierung“ und fordert personelle wie inhaltliche „Klarheit“. Das wirkt angesichts der deutsch-deutschen Krisenlage eher wie Streicheleinheiten, Ankündigungen eines Koalitionsbruchs sind das nicht. Angesagt sind derzeit noch verletzende Untertreibungen, mit denen die Akteure nach außen Krisenbewußtsein demonstrieren wollen, ohne nach innen schon die Brücken endgültig abzubrechen. „Weiter so ist kein Rezept“, ruft Theo, ohne auch nur den Anschein zu erwecken, er habe eines parat. Ein neues Konzept zur Lösung der Einheitsprobleme wird auf den koalitionsinternen Krisengipfeln der nächsten Wochen nicht erarbeitet. Neu am Profilierungspoker ist immerhin, daß die wirkliche Krise vor aller Augen auf die Koalition durchschlägt.

Dabei wirkt die Flucht aus der Wirklichkeit in die Selbstbeschäftigung so hilflos wie konsequent. Denn die entscheidenden Weichenstellungen sind vollzogen und grundsätzliche Korrekturen des ökonomischen und sozialen Talfahrtkurses nicht in Sicht. Auch der überzeugende Appell, auf den Regierungen in ähnlich desaströsen Situationen gewöhnlich zurückgreifen, ist verstellt: die Aufklärung nach den dicken Nebelschwaden des Einheitsjahres und die moderate Ermutigung nach dem geschürten Erwartungstaumel blieben wirkungslos, selbst wenn sie ernsthaft versucht würden. Die Regierung hat in West wie Ost das Bewußtsein der historischen Dimension der Einheit als Prozeß systematisch ausgetrieben und damit eine entscheidende Voraussetzung für die gesellschaftliche Einigung zerstört. Sie hat im Tausch für billige Zustimmung den experimentellen Charakter des Projektes verleugnet und kann deshalb jetzt kein Verständnis für die Mißerfolge erwarten. Sie hat statt dessen mit ihren Einheitsversprechungen die Kriterien vorgegeben, an denen sie jetzt gemessen wird. Als letztes Handlungsfeld bleibt der interne Streit.

Doch auch im koalitionären Binnenverhältnis sind die Handlungsspielräume begrenzt. Die CDU, Hauptgewinner und deshalb jetzt Hauptverlierer der historischen Stunden, nimmt ihr personelles und konzeptionelles Vakuum als gegeben hin, appelliert an die Geduld ihrer Partner und sendet ansonsten vorsichtig-diffuse Signale an die Opposition. Mißlicher geht es da schon der CSU, die deshalb besonders laut schreit. Ihre Tagträume vom Koalitionsbruch wirken deshalb nicht sonderlich bedrohlich, weil es in Bonn schlicht auch ohne die Strauß-Nachfolger geht, die jetzt erschreckend bieder dessen Droh-Rituale nachzuspielen suchen. Wie jämmerlich es in der Bayernpartei zugehen muß, erhellt am ehesten der Vorschlag ihres Generalsekretärs, der sich nicht entblödet, noch einmal die DSU als Rettungsanker seiner Partei ins Spiel zu bringen. Selbst wenn der Bonner Politik Erfolg beschieden wäre, die auf Bayern beschränkte CSU ist Einheitsverlierer. Die FDP wünscht den Bayern für den Regierungsabgang prophylaktisch schon mal „gute Reise“ und hält ansonsten geschickt die propagandistische Balance zwischen unverbrüchlicher Koalitionstreue und möglichem Wechsel, der angesichts der Mehrheitsverhältnisse allerdings nur perspektivisch relevant erscheint. Noch hebt sich das koalitionsinterne Kraft- und Drohpotential gegenseitig auf. Das verspricht, parallel zum Crash-Kurs-Ost, längerdauerndes Gerangel. Daß sich mit internem Krisenmanagement allerdings die schwierigste Legislaturperiode der Nachkriegszeit überstehen läßt, können selbst die notorischen Optimisten im Kanzleramt nicht glaubhaft machen. Matthias Geis