: Jugoslawien: Der erste Tag der Katastrophe
Gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen bewaffneten Serben und kroatischer Polizei fordern zahlreiche Todesopfer/ Kroatiens Präsident Tudjman spricht vom Beginn eines offenen Krieges gegen Kroatien/ Die Armee zwischen den Fronten ■ Aus Virovitica R. Hofwiler
Panzer stehen am Wegesrand, Schützenfahrzeuge mitten in Weidelandschaften und Feldern. Man glaubt, man befinde sich inmitten eines Manövers. Und man bedauert, daß man sich so nahe ans Kriegsspiel heranwagte. Stundenlang dauern für uns Journalisten im kroatischen Kleinstädtchen Virovitica, wenige Kilometer von der ungarischen Grenze gelegen, die Verhöre. Nur eine Frage interessiert die strammen Polizisten und wackeren Rekruten: Auf welcher Seite man stehe, auf der Kroatiens oder Serbiens.
Dabei liegt der eigentliche „Kriegs“-Schauplatz noch hundert Kilometer östlich von Virovitica, im Dorf Borovo-selo. Glaubt man Radiosendern, dann starben dort in der Nacht auf Freitag zwischen dreizehn und fünfunddreißig Menschen, Serben und Kroaten. Gezählt werden die Toten getrennt. Auch in Virovitica.
In Virvotica sind die Kroaten noch unter sich. Doch wenige Kilometer weiter östlich in der slowenischen Tiefebene wechseln sich kroatische, serbische, vereinzelt auch ungarische Dörfer ab. Dort liegt das „zweite Kosovo“.
Obwohl gestern serbische und kroatische Medien ein recht widersprüchliches Bild von den Unruhen von Borovo-selo zeichneten, glaubt man in Virovitica den genauen Verlauf zu kennen: Am Mai-Feiertag fuhr ein kroatischer Polizist aus dem benachbarten Vukovar mit seiner Familie zum Onkel in Borovo-selo und wurde dort von „serbischen Freischärlern“ entführt. In der folgenden Nacht fuhren Kollegen des Polizisten erneut in das Dorf, da von der „Entführung“ etwas durchgesickert war. Plötzlich tauchte eine Straßensperre am Ortseingang auf. Als die Polizisten hielten, wurde aus dem Hinterhalt heimtückisch das Feuer eröffnet. Doch niemand wurde ernsthaft verletzt, als man die Flucht ergriff und umkehrte. Nur ein Kollege blieb hängen. Er wurde zur zweiten „Geisel“ der Freischärler. Am Donnerstag dann wurde ein „Gegenschlag“, angeblich mit Zustimmung der Zagreber Republikführung ausgearbeitet. Mit Gasgranaten und schwerem Geschütz fuhren paramilitärisch ausgerüstete Kroaten in die Serbenenklave Borovo-selo. Die bürgerkriegsähnlichen Kämpfe begannen.
Ein Szenario, das mittlerweile in Jugoslawien zum Alltag gehört. Der Hintergrund ist immer der gleiche. Die Republik Kroatien möchte lieber heute als morgen dem bankrotten Vielvölkerstaat Jugoslawien den Rücken kehren. Doch Kroatien ist kein ethnisch homogener Landstrich wie eigentlich keine der sechs jugoslawischen Republiken mit Ausnahme des ebenfalls „abtrünnigen“ Slawonien. Und so begehren die „Minderheiten“ überall auf. Am militantesten die Serben, die Anfang des Jahres ein „eigenes autonomes Gebiet der Krajna“ im kroatischen Hinterland ausriefen — dem zweiten Krisenherd Kroatiens.
Denn auch dort wurde gestern geschossen. Glaubt man den Offiziellen von Virovitica, dann kam es gestern in der Gegend von Kijevo erneut zu „Terroraktionen“. Dabei habe die Armee, die mittlerweile in weiten Teilen Kroatiens, wie eben auch in Virovitica in Stellung gegangen ist, eher die Seite der serbischen Aufständischen ergriffen als die der „bedrohten Kroaten“. Die Armeeangehörigen vor und in der Stadt verweigern dazu jedes Gespräch. Es hat den Anschein, mehr, als durch ihre Truppenpräsenz abzuschrecken, wollen die Generäle nicht. Im Augenblick zumindest.
Wie ein Halbmond zieht sich das national gemischt besiedelte Gebiet Kroatiens von der dalmatinischen Adriaküste über die Krajna nach Slawonien über Hunderte Kilometer bis fast nach Belgrad. Überall kochen die nationalen Leidenschaften. Kroatiens Präsident Franjo Tudjman richtete gestern mehrmals eine Ansprache an seine Landsleute, Ruhe zu bewahren. Wörtlich: „Ein offener Krieg wurde Kroatien erklärt.“ gelänge es nicht, die „feindlichen Elemente“ und „serbische Imperialisten“ zu stoppen, dann würden Chaos und Bürgerkrieg unausweichlich. Während Tudjman anklagte, schwieg Serbiens Präsident Slobodan Milosević, und die Bundesarmee wie die Bundesregierung unter Premier Ante Markovic hielt sich mit jeglicher Verlautbarung zurück.
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