Völlig nach westdeutschem Vorbild

Deutscher Ärztetag diskutierte über den Aufbau des Gesundheitssystems in Ostdeutschland/ Aus für viele Polikliniken/ Die brennenden Themen wurden auf dem Kongreß ausgeklammert  ■ Aus Hamburg Vera Stadie

Die Gesundheitspolitik in den neuen Bundesländern stand im Mittelpunkt des ersten gesamtdeutschen Ärztetages seit 60 Jahren. Unter den vom 30. April bis zum 4. Mai in Hamburg versammelten 250 Delegierten, die insgesamt 285.074 Ärzte vertraten, waren 38 aus den neuen Bundesländern, fünf aus dem Ostteil Berlins. „Es ist unser fester Wille, in den neuen Bundesländern jenes System der medizinischen Versorgung einzuführen, mit dem wir im bisherigen Bundesgebiet so gute Erfahrungen gemacht haben“, betonte der Kanzler bei der feierlichen Eröffnungsveranstaltung im Hamburger Rathaus. Der Ärztetag beschloß, die Gesundheitssysteme in den neuen Bundesländern vollständig nach westlichem Vorbild zu gestalten, Mischsysteme oder gar gegensätzliche System der medizinischen Versorgung im vereinten Deutschland lehnen die Ärztevertreter ab.

In der ehenmaligen DDR hat sich derweil der Trend zur eigenen Praxis schneller durchgesetzt als erwartet, die meisten Polikliniken sind bereits durch Privatpraxen abgelöst worden. Walter Brandstätter, Präsident der Ärztekammer Sachsen-Anhalt, berichtete, daß von den vorher zwanzig Polikliniken in Magdeburg nur noch vier bestünden. Es würde allerdings noch eine Weile dauern, bis sich die Kollegen auf marktwirtschaftliches Denken umgestellt hätten. Ob diese Umorientierung der Ärzte im östlichen Teil Deutschlands auch den Patienten nützt, kam auf dem Hamburger Ärztetag nicht zur Sprache. Der zunehmenden Spezialisierung in der Medizin trägt die neue Weiterbildungsordnung Rechnung, die der Ärztetag in erster Lesung beriet. Endgültig entschieden über die Novellierung wird erst im nächsten Jahr.

Die Einführung von Facharztbezeichnungen für alle Ärzte in Ost und West — ein Augenarzt darf sich dann Facharzt für Augenheilkunde nennen — nützt zunächst vor allem der Stempel- und Schilderindustrie. Ob die Patienten sich in dem Schilderwald zurechtfinden werden, ob sie tatsächlich nur noch vom Spezialisten behandelt werden wollen, wie einer der Ärzte formulierte, wird sich zeigen. Querelen gab es um die Einführung eines Facharztes für Geriatrie (Altersheilkunde), der entsprechende Antrag der Hamburger Ärztekammer wurde abgelehnt. Die Internisten und Allgemeinmediziner sehen ihre Pfründe schwinden, wenn die alten Patienten zum Geriater abwandern.

Einen Ausschuß „Zur Problematik des Schwangerschaftsabbruches“ hatte der letzte Ärztetag eingesetzt, mehrheitlich mit Frauen und paritätisch mit Ärztinnen aus neuen und alten Bundesländern besetzt, um wegen der unterschiedlichen gesetzlichen Vorgaben für den Schwangerschaftsabbruch in den alten und neuen Ländern der Bundesrepublik aus ärztlicher Sicht eine gemeinsame Regelung zu erarbeiten. Sein Mehrheitsvotum nahm der diesjährige Ärztetag zustimmend zur Kenntnis. „Es ist nicht unser Anliegen, eine Liberalisierung bzw. Abschaffung des §218 zu bewirken“, so der Ausschuß in seinem Bericht. Die Mehrheit des Ausschusses will auf Strafandrohung verzichten, betont aber auch, daß es nicht Aufgabe ärztlicher Tätigkeit sein kann, Notlagen zu definieren, die nicht objektivierbar sind. Pflegenotstand, ärztliche Behandlungsfehler im Krankenhaus, Tötung von Patienten durch medizinisches Personal, die wirklich brennenden Themen kamen auf dem Ärztetag nicht zur Sprache nach Auffassung von Bernd Kalvelage, einem Mitglied der Hamburger Ärzteopposition. Er rief zusammen mit Patienteninitiativen und der ÖTV Hamburg auf zur einer Gegenveranstaltung über „Hierarchie — Heilige Herrschaft der Ärzte über Pflegepersonal und Patienten“. Nach seiner Auffassung sind vor allem die hierarchischen Strukturen der „herrschenden“ Medizin Ursache der allseits beklagten Pflegemisere in den Krankenhäusern. Notwendige Veränderungen im Gesundheitswesen würden regelmäßig an der starken Lobby der Ärzteschaft, die der Ärztetag öffentlichkeitswirksam präsentiere, scheitern. Die Diskussion über Hierarchie am Donnerstag hob für einige Stunden die Sprachlosigkeit zwischen Helfern und Patienten, Ärzten und Schwestern auf.