Tödlicher Taifun riß Hunderttausende ins Verderben

■ Möglicherweise bis zu 500.000 Menschenleben hat der verheerende Wirbelsturm in Bangladesch gefordert. Und wie immer bei "Naturkatastrophen" traf es wieder die Ärmsten der Armen, die für..

Tödlicher Taifun riß Hunderttausende ins Verderben Möglicherweise bis zu 500.000 Menschenleben hat der verheerende Wirbelsturm in Bangladesch gefordert. Und wie immer bei „Naturkatastrophen“ traf es wieder die Ärmsten der Armen, die für die Ursachen ihres Untergangs am wenigsten verantwortlich sind.

Plötzlich war es da, das Geräusch, das jeder kennt, der in Tschittagong wohnt: das Heulen des anschwellenden Windes. Er wurde stärker und stärker, plötzlich ein Donnerschlag — der Sturm hatte ein Fenster samt Rahmen aus der Wand meiner Wohnung im vierten Stock gerissen. Ich glaubte noch immer, daß es nur ein heftiger Sturm war, was da über uns hinwegfegte. Aber bereits im nächsten Moment dämmerte es mir: Der Wirbelsturm, der hereinzubrechen drohte, war da. Ich schloß die Fenster und ging auf die Straße hinunter. Kaum hatte ich das Tor geschlossen, brach das Garagendach herunter. Während ich die Treppe hinaufstieg, spürte ich ganz in der Nähe eine Erschütterung: Die Fenster der Textilfabrik in der Nachbarschaft waren einfach weg, Kleider wirbelten durch die Luft. Um 23.15 Uhr ging das Licht aus. Ein paar Minuten später war die Telefonleitung tot. Der Geistliche in der Moschee nebenan flehte laut um Allahs Hilfe.

Um vier Uhr fuhr ich mit einem Moped in den Norden der Stadt. Ich sah die Leichen von neun Arbeitern, begraben unter den Trümmern eines Lebensmittellagers. Dann noch mehr Tote. Leitungsmasten waren aus ihren Verankerungen gerissen. Der Sturm hatte Container mit Stahlrahmen auf Häuser geschleudert.“

Soweit der Augenzeugenbericht des 'ap‘-Journalisten Osman Gani Mansur vom Tag der Flutkatastrophe selbst. Drei Tage danach sind die Schätzungen über die Zahl der Todesopfer geradezu apokalyptisch: einheimische Zeitungen berichteten gestern von möglicherweise 500.000 Toten. Mit der Flut werden immer mehr Leichen an die Strände gespült. Ganze Inseln sind spurlos von der Landkarte verschwunden. Ministerpräsidentin Khaleda Zia erklärte über Rundfunk den Samstag zum Trauertag. Ein Abteilungsdirektor des Roten Halbmonds, Emdad Hossain, sagte am Freitag, seine Organisation werde von Hilferufen förmlich überrollt. Allein auf der Insel Sandwip, die dem Hafen Tschittagong vorgelagert ist, habe die Flutwelle im Wirbelsturm mindestens 20.000 Menschen in den Tod gerissen. Die Hafenanlagen von Tschittagong sind zerstört. Die Insel, auf der vor der Katastrophe 300.000 Menschen lebten, war dem ersten Anbranden der meterhohen Wogen schutzlos ausgeliefert. Sandwip liegt nahezu völlig unter Wasser. Reporter berichteten, die Wasserfläche sei von Leichen bedeckt.

Der Wirbelsturm war der stärkste seit dem Sturm, der 1970 im damaligen Ostpakistan das Leben einer halben Million Bengalen gefordert hatte. Die Rettungsmannschaften äußerten am Freitag die Befürchtung, daß es für Tausende, die der Flutwelle entkommen waren, nur wenig Hoffnung auf Rettung gibt.

Naturkatastrophen haben seit der Gründung des Staates Bangladesch Regierungen ins Amt gebracht und gestürzt. Jedesmal wuchs die Spaltung zwischen Arm und Reich. Wer Zugang zu den knappen Ressourcen hat, gewinnt in diesen Situationen an Macht. Dies hat sich auf der untersten, der lokalen Ebene gezeigt, wo die Geldverleiher mit ungeheuren Wucherzinsen von der Not der Bevölkerung profitieren, ebenso wie auf der nationalen Ebene an der Verteilung der Nahrungsmittelhilfe.

Die stete Verarmung des Landes, das seit seiner Gründung vor zwanzig Jahren etwa 50 Milliarden Dollar an ausländischer Hilfe erhalten hat, ist nicht zu verstehen ohne den politischen Kontext, erklärt der Bangladesch-Experte und Mitglied der britischen „One World Action Group“, Andy Rutherford. Der Befreiungskrieg Bangladeschs gegen die pakistanische Herrschaft wurde vom Westen mit sehr gemischten Gefühlen verfolgt. Als die Unabhängigkeitspartei Awami-Liga an die Macht kam, versuchte der Westen, mit seiner Wirtschaftshilfe Bangladesch prowestlich auszurichten. Die Hilfe konzentrierte sich auf die Entwicklung von Infrastruktur und Rohstoff- Extraktion, auf eine Entwicklung des Energiesektors — der oft nur ausländischen Firmen nutzte.

In einem Land, in dem etwa zwei Drittel der Bevölkerung landlos sind und damit fast automatisch unter der Armutsgrenze leben, sei diese Art der Hilfe fatal, so Rutherford. Tatsächlich hat sich die Landlosigkeit seit der Unabhängigkeit verdoppelt.

Nach Katastrophen wie dieser reagiert die Bevölkerung meist mit Mißtrauen gegenüber der Zentralregierung. Seit dem Befreiungskrieg erlebte das Land nur eine kurze Periode der Demokratie. Seit 1975 bis zum Dezember des vergangenen Jahres bestimmte eine Reihe von Militärdiktaturen die Politik. Als Ergebnis haben die Menschen von Bangladesch heute überhaupt kein Vertrauen mehr in ihre Regierung. Auch Präventiv-Programme wie das „Cyclone Preparedness Programme“ stießen auf Mißtrauen.

Was jetzt weiter passiert, hängt davon ab, wie die erforderliche Hilfe organisiert wird. Natürlich wird die Regierung erst einmal Nahrungshilfe in großem Umfang bekommen müssen. Aber längerfristig geht es um die Wahl, welche Organisationen im Land gestützt werden, und ob lokale Initiativen gefördert werden. Zum Beispiel an der Küste. Die Boote, Netze und alle Arbeitsgeräte der Fischer sind zerstört. Wenn sich die Bevölkerung nun neue Arbeitsgeräte beschaffen will, besteht die Gefahr, daß die Geldverleiher wieder einmal das große Geschäft machen. Jutta Lietsch