Standbild: Windmaschine für Gefühle

■ "Gand Prix d'Eurovision de la Chanson", Samstag, ARD

Nur kurzes Entsetzen in ihrem Gesicht: Sollte sie doch noch mit der letzten, der Wertung der gastgebenden Italiener auf den zweiten Platz verdrängt werden? Doch die Höchstzahl der zwölf Punkte, die die römischen Schlagertifosi dem französischen Beitrag „C'est le dernier qui a parlé qui a raison“ zukommen ließen, reichten nur zum Gleichstand mit der Schwedin Carola Sögaard: 146 „Poäng“ hatten am Ende des Grand Prix d'Eurovision de la Chanson beide, doch die Jury eröffnete, daß die wie eine Adoptivtochter der Pointer Sisters über die Bühne wirbelnde Schwedin mit mehr Höchstnoten auch den Sieg ersungen hatte.

Und Carola, die in Skandinavien längst ein Star ist, eine glühende Sonne, verheiratet, sekten- und bibelgläubig, war mal wieder kurz davor, in Tränen auszubrechen. Doch gefaßt nahm sie die Ehrung hin — eine häßliche Acrylplastik, Glückwünsche der Offiziellen und Küsse des Vorjahressiegers Toto Cutugno —, atmete zarte Widmungen für ihren Mann, ihre Eltern, Schweden und die Welt ins Mikrofon und sang noch einmal „Fangad av en stormvind“, etwa: „Gefangen in einer heftigen Gefühlsaufwallung“.

Gewonnen hatte damit bei diesem wie seit langem nicht mehr so unterhaltsamen, auch musikalisch bekömmlichen Wettbewerb die junge Frau, die bereits 1983 als 16jährige den dritten Platz mit „Främling“ gewinnen konnte, in Schweden der Teeniestar war und von der dortigen Boulevardpresse verrrissen wurde, nachdem ihre tiefe Religiösität bekannt geworden war („Carola stöhnt beim Beten...“), also die Frau, die die Probewoche zuvor unter kreislaufzermürbender Nervosität litt, ihren Text vergaß und ständig aus der Choreographie ihrer Inszenierung fiel — und am Ende doch die größte „présence d'esprit“ hatte, sich von der eigens für sie installierten Windmaschine einen Orkan ins Gesicht blasen ließ und ausstrahlte: Ich will und ich werde gewinnen.

Gewonnen hatte sie den Wettbewerb gegen allerschärfste Konkurrenz. Nie zuvor war die Spitze so eng beieinander. Das israelische „Duo Datz“ mit einem der landestypischen Folklorelieder, abgemischt mit einer Prise Politik („Als eine Scud auf mein Haus flog, fiel mir das Lied ein“), lag nur sieben Punkte hinter der Siegerin. Krachende Happysoundschlager fielen — bis auf Carola — durch. Hymnen ebenso, fade Obskuritäten wie Österreichs Thomas Forstner mit „Venedig im Regen“ gleichfalls: Er landete punktlos auf dem 22. und letzten Rang. Auch der deutsche Beitrag der Gruppe „Atlantis 2000“ stürzte ab: Sechs Leute auf der Bühne und doch wie eine auf Fistelsound eingestellte Combo singend, das reichte nur zum 18. Platz — gerechte Bestrafung für ein Lied, das schon bei der deutschen Vorentscheidung in Berlin ausgepfiffen worden war.

Die beiden Bühnenmoderatoren Toto Cutugno und Gigliola Cinquetti (Siegerin des Grand Prix 1964): Chaotisch, englisch und französisch und sonstwas radebrechend, trieben der Show das Staatsmännische, Intendantengemäße aus, herzten und drückten den Vortragenden die Hände, Wangen und Daumen. Wie heiter, aber betrunken wirkte er, begütigend-mütterlich sie, die in einen blauen Kittel gehüllte Cinquetti, wirklich Superklasse. Last but not least: Outfitmäßig dominierten Frisuren noch und noch, hoch- und wildtoupiert, ein bißchen wie in den frühen Sechzigern ausschauend. An den Ohren der in dunkelblaue Roben gehüllten Damen hingen tonnengeschwere, monströse Klunkern. Nur Carola setzte auf Mailänder Design: Im Hosenensemble kurvte sie durch die Kulissen der römischen Filmstadt. Der Beifall des Publikums — nachdem die Pfiffe über die nur auf Platz zwei gesetzte, doch punktgleiche Französin Amina mit ihrem zarten und durchaus hörenswerten Ethnopoplied über die Unterdrückung der Frau verklungen war — fiel nahezu euphorisch aus. Und Carola gab den Leuten Zucker: „Thank you“, rief sie in den Saal der römischen Filmstadt Cinecittá, und: „God bless you“. Michael Jackson hätte angefügt: „And don't forget: We are all children.“ Jan Feddersen