: Sieg ohne jeden Triumph
Obwohl den afghanischen Mudschaheddin jüngst die Einnahme der Stadt Khost gelang, ist die endgültige Niederlage Präsident Nadschibullahs nur ein Wunschtraum — Das Patt bleibt bestehen ■ Von Jürgen Hippler
Der Krieg in Afghanistan ist mit dem Abzug der Roten Armee nicht beendet, sondern nur in gewissem Maße „afghanisiert“ worden. Seit ihrer Eroberung der Stadt Khost Anfang April haben die Mudschaheddin neue Hoffnung geschöpft, die militärische Auseinandersetzung doch noch für sich zu entscheiden. Diese Hoffnung hat allerdings nur begrenzte Verwirklichungschancen. Nach dem Rückzug der Sowjettruppen waren die Mudschaheddin bei ihrer Generaloffensive gegen die Regierung gescheitert. Die militärische Niederlage in der Schlacht um Dschalalabad stellte nicht nur klar, daß von einem Zusammenbruch der Regierung überhaupt keine Rede sein konnte — sie konsolidierte die Kabuler Regierung vor allem politisch. Innerhalb und außerhalb Afghanistans war damit seit Sommer 1989 die militärische Option zur Beendigung des Krieges praktisch erledigt: Die Regierung hatte ohnehin keine Chance auf einen Sieg, die Mudschaheddin ihre Unfähigkeit, das Blatt zu wenden, soeben nachgewiesen. Seitdem konnten die Regierenden in Kabul ihre politische Position konsolidieren, sogar einzelne Militärerfolge verzeichnen. Nicht mal der Putschversuch des damaligen Verteidigungsministers Shahnawaz Tanai konnte Präsident Nadschibullah in Bedrängnis bringen.
Der Zusammenhalt der überwiegend auf dem Papier bestehenden „Siebener-Allianz“ der Mudschaheddin im pakistanischen Peshawar nahm weiter ab, Morde und Kämpfe der verschiedenen Gruppen untereinander zu. Zugleich lockerten sich die schwach entwickelten Bindungen der Kommandanten innerhalb Afghanistans an „ihre“ jeweiligen Parteien in Peschawar. Im Mai und Juni letzten Jahres kam es in der Provinz Paktia (wo auch Khost liegt) zu zwei wichtigen Treffen zahlreicher Mudschaheddinkommandanten, die sich praktisch gegen die Kabuler Regierung und die Parteien in Peschawar richteten. Eine führende Rolle dabei spielte Kommandant Jalaudin Haqqani (von der Hisb des Yunis Khalis), der dann später die Offensive gegen Khost leitete.
Parallel zu diesen Prozessen gelang es der Regierung Nadschibullah, trotz der bei ihr traditionell vorhandenen Spaltung in zwei Flügel (in Wirklichkeit waren die Konfliktlinien immer komplizierter), sich innerparteilich und auch im Land politisch zu konsolidieren. Drei Faktoren spielten dabei eine Rolle: die sinkende Beliebtheit der Exilparteien in Peschawar, die Konsolidierung auf Parteiebene und eine Politik, die auf dem Geschäft „Autonomie gegen Frieden“ basierte. Im Zuge der Parteireform wurde aus der „Demokratischen Volkspartei“ die „Vaterlandspartei“ (Watan-Party).
Dabei wurde einerseits die personelle Kontinuität gewahrt. Das Politbüro der alten Partei wurde das Politbüro der neuen. Programmatisch allerdings wurde durch die Umgründung der Partei die schon länger betriebene progammatische Revision weiter forciert: die ehemals marxistisch-leninistische Partei erhielt eine marktwirtschaftliche und islamische Programmatik. Daß die Parteistrukturen sich in einem wesentlich geringeren Maße änderten, steht auf einem anderen Blatt. Die so „gewendete“ Regierungspartei verzichetete auf praktisch jeden revolutionären und auf fast jeden reformistischen Ansatz. Ihr geht es heute — und zwar in dieser Reihenfolge — um ihr Überleben, um die Beendigung des Krieges und um die Beendigung der kriegsbedingten Wirtschaftskrise. Ein entscheidendes Element dieser „pragmatischen“ Politik besteht in der erwähnten Politik, „Autonomie für Frieden“ anzubieten. Offiziell spricht man in diesem Zusammenhang von der „Politik der nationalen Versöhnung“, was den Tatbestand aber eher verhüllt als bezeichnet. Praktisch geht es darum, lokalen Kommandanten, Stämmen und anderen Machtträgern die Selbstverwaltung in der jeweiligen Region anzubieten, dazu Waffen, Anbaugebiete, Nahrungsmittel, Infrastruktur. Einzige Bedingung: ein Ende des Krieges gegen die Regierung. Praktisch verzichtet die Regierung damit auf die Kontrolle großer Landesteile — die sie aber sowieso kaum wirksam kontrollieren könnte — als Preis für den Frieden. Dieser Mechanismus funktioniert zumindest in jenen Landesregionen, die weiter von der pakistanischen Grenze entfernt sind. Er sorgt außerdem dafür, die Peschawar-Parteien entscheidend zu schwächen.
Der Fall Khosts — erste gemeinsame Operation
In diesem Zusammenhang, in dem die Zeit zunehmend für die Regierung arbeitete — wenn man den Verzicht der Regierung aufs Regieren hier außer acht läßt — fiel die überraschende Eroberung von Khost. Die Mudschaheddin hatten fast seit dem Beginn des Krieges versucht, Khost zu erobern, waren daran aber immer gescheitert. Dabei war die Verteidigung der Stadt eigentlich eine militärische Unmöglichkeit: Kurz vor der pakistanischen Grenze gelegen, war sie bereits seit Jahren von ihrem Hinterland abgeschnitten. Khost konnte von der Regierung nur durch die Luft versorgt werden. Das eigentlich Erstaunliche war, daß die so exponierte und abgeschnittene Stadt so lange gehalten werden konnte. Einer der Gründe dafür bestand darin, daß die Bevölkerung von Khost an der Verteidigung aktiven Anteil nahm, gerade auch die Frauen.
Für die jetzt doch erfolgte Eroberung gibt es eine Reihe von Gründen. Der wichtigste ist politischer Natur: In der Vergangenheit war die Eroberung immer wieder gescheitert, weil die potentiellen Angreifer keine gemeinsamen Operationen zustande brachten. Der pakistanische Militärgeheimdienst ISI (Inter Services Intelligence Directorate) hatte die Hisbe-Islami des Fudamentalistenführers Gulbuddin Hekmatyar bei der Waffenzuteilung aus politischen Gründen immer massiv bevorzugt. Dies unterstützte deren Vorherrschaftsstreben und führte zu verstärkten Konkurrenzen und Eifersüchteleien unter den Mudschaheddingruppen. Gemeinsame Operationen wurden so unmöglich, von einem gemeinsamen Oberkommando ganz zu schweigen. Diesmal aber wurden die Waffen gleichmäßig unter die Gruppen verteilt und vor dem Angriff längerfristig an einer politischen Verständigung der regionalen Mudschaheddin gearbeitet. Der Angriff auf Khost wurde daher zum ersten Mal als gemeinsame Operation und unter einem Kommando geführt, der Kern des Erfolges.
Ein weiterer Faktor bestand darin, daß man der Bevölkerung und den Soldaten in Khost diesmal glaubwürdige Garantien gegeben hatte, auf Massaker zu verzichten. Solche Massaker an Gefangenen und Zivilisten hatten in der Vergangenheit das Ansehen der Mudschaheddin beschädigt und die Verteidiger zu massivsten Widerstand motiviert. Gespräche des zu den Mudschaheddin übergelaufenen Ex-Verteidigungsministers Tanai mit den Verteidigern betonten diesen Punkt. Darüber hinaus wurde die militärische Taktik geändert: Die Mudschaheddin setzten beim Sturm auf Khost in einem Maße Artillerie ein wie niemals zuvor. Der größte Teil der Zivilbevölkerung war aufgrund dieses massiven Bombardements vor dem eigentlichen Angriff bereits aus der Stadt geflohen oder evakuiert worden.
Scharmützel für die Psychologie
Die Eroberung von Khost ist strategisch zwar ebenso bedeutungslos, wie es ihre Verteidigung gewesen ist, hat aber doch eine gewisse militärische und vor allem politische Relevanz. Militärisch deshalb, weil den Mudschaheddin in Khost große Mengen an Waffen und Material in die Hände fielen, unter anderem rund 55 Panzer und gepanzerte Fahrzeuge. Der afghanische Krieg wird zwar kaum durch militärisches Gerät entschieden, trotzdem: ein nicht unerheblicher Faktor. Zweitens aber hat der Fall von Khost eine politisch- symbolische Bedeutung. So wie im letzten Sommer die Einnahme des „uneinnehmbaren“ Städtchens Paghman (in der Nähe von Kabul) durch die Regierung einen beträchtlichen psychologischen Aufschwung bedeutete, so ist der Fall von Khost eine ebenso symbolträchtige Niederlage. Der afghanische Vizepräsident Mazdak sprach offen davon, daß die Regierung „schockiert“ sei.
Es ist noch nicht zu überblicken, welche Auswirkungen dies auf die Zukunft des afghanischen Friedensprozesses haben wird. Dieser war auf zwei Ebenen mühsam in Gang gekommen: Präsident Nadschibullah hatte im letzten Jahr die Initiative übernommen und sich in Gesprächen mit Mudschaheddinführern um einen Kompromiß bemüht. Er hatte sich im Herbst in Genf mit Vertretern der Peschawar-Parteien und des Ex- Königs Zahir Shah getroffen, anschließend im Iran mit denen der schiitischen Widerstandsgruppen. Diese Kontakte waren unter anderem durch Gespräche von Außenminister Abdul Wakil mit Mudschaheddin und den Unabhängigen in Europa (auch in der BRD) vorbereitet worden. Die Regierung war dabei so weit gegangen, unter bestimmten Bedingungen (etwa: keine Verfolgung von Parteimitgliedern oder Offizieren) auch den Rücktritt Präsident Nadschibullahs anzubieten. Die Gespräche hatten zwar keinen Durchbruch zur Folge, aber doch vielversprechede Ansätze erbracht.
Zweitens war auch auf der internationalen diplomatischen Bühne einiges in Bewegung gekommen. Die Sowjetunion und die USA waren im letzten Herbst einer Vereinbarung über Afghanistan sehr nahe. Die Unmöglichkeit einer politischen Lösung und die enge Kooperation im Golfkrieg hatten diese Möglichkeit eröffnet. Die damals mögliche Vereinbarung sollte auf dem Prinzip von Wahlen zur Bestimmung einer neuen afghanischen Regierung auf dem Prinzip der Einstellung der Unterstützung an beide Kriegsparteien basieren. Im Dezember war dieser Weg gescheitert: Die USA beharrten auf zum Teil wenig praktikablen Forderungen (etwa der Kontrolle des afghanischen Militärs durch internationale Kommissionen oder unter Beteiligung der Mudschaheddin — gegen die das Militär ja kämpfte), während auch die sowjetische Position sich damals verhärtet zu haben scheint: Faktoren der sowjetischen Innenpolitik und das Gefühl, die afghanische Regierung sitze jetzt fest im Sattel, haben dazu beigetragen.
Seit dem letzten Dezember ist damit die diplomatische Initiative von den beiden Großmächten auf die UNO übergegangen. Fortschritte hier setzen aber weiterhin ein grünes Licht aus Moskau und Washington voraus, was gegenwärtig alles andere als sicher ist.
Schließlich hatte sich im letzten Jahr auch die Rolle der anderen externen Mächte modifiziert. Saudi- Arabien, nach den USA wichtigster Finanzier der Mudschaheddin, hatte seit Beginn der Golfkrise andere Probleme als den Krieg in Afghanistan anzuheizen. Und selbst im pakistanischen Militär ließen Ende letzten Jahres hohe Offiziere durchblicken, daß die Unterstützung der Mudschaheddin — und die Bevorzugung Hekmatyars — überdacht wurde.
Vergeltungsschläge sind Imponiergehabe
Der Fall von Khost läßt nun manche der positiven Tendenzen fragwürdig erscheinen. Eine Reihe von Kommandanten der Mudschaheddin und Vertreter der Peschawar-Parteien haben aus ihrem Sieg den Schluß gezogen, daß eine militärische Lösung des Konfliktes doch noch möglich sei. Angriffe auf andere Städte und sogar auf Kabul wurden bereits angekündigt. Einiges davon mag nicht im wörtlichen Sinne ernst gemeint sein, es ist aber doch ein Rückfall in die großsprecherische und militaristische Rhetorik früherer Jahre. Zugleich ist nicht auszuschließen, daß die Niederlage zu einer Verhärtung der Haltung Präsident Nadschibullahs führen kann. Die gesamte „Politik der Nationalen Versöhnung“ und seine Kompromißbereitschaft gegenüber der bewaffneten Opposition beruhte ja in der Vergangenheit darauf, zwar unbeliebt, aber auch ungefährdet zu sein. Wer in Afghanistan sollte sich auf Abmachungen mit einer Regierung einlassen, deren Existenz zweifelhaft ist? Das Imponiergehabe ebenso massiv wie militärisch sinnloser Luft- und Raketenangriffe auf das gefallene Khost deuten in diese Richtung. „Gesichtswahrung“ ist in Afghanistan keine bedeutungslose Nebensache.
Auch das internationale Umfeld wird durch Khost verändert. Einmal muß man jetzt die Hoffnung auf eine zu weitgehende Änderung der Politik des pakistanischen Militärs aufgeben. Die Diskussionsprozesse in deren Generalität haben sich offensichtlich nicht auf die Position der wenigen Personen im ISI (dem militärischen Geheimdienst) ausgewirkt, die die pakistanische Afghanistan-Politik in ihren Händen konzentriert haben. Ohne den massiven Druck des ISI, ohne seine Beratung und verstärkten Waffenlieferungen wäre weder die prekäre Einheit der regionalen Mudschaheddin um Khost zustandegekommen noch der militärische Sieg möglich gewesen. Die afghanische Regierung hat sogar von einem Eingreifen pakistanischer Artillerie in die Kämpfe gesprochen, was sich nicht verifizieren läßt.
Khost bringt auch die US-amerikanische Politik in eine schwierige Lage. Erst unter großen internen Schwierigkeiten hatte sich Washington von der Illusion eines militärischen Sieges gelöst und an einer politischen Lösung orientiert. Im letzten Jahr war die Hilfe an die Mudschaheddin auf 250 Millionen Dollar reduziert worden (von einem Höchststand von über 700 Millionen Dollar 1988). Und die Hälfte dieses Betrages wurde noch zurückgehalten und an ein Wohlverhalten der Mudschaheddin im Rahmen einer politischen Lösung gebunden. Daß genau nun die Mudschaheddin einen militärischen Erfolg verzeichnen, auf den man so lange gewartet hatte — genau jetzt, wo man eine Siegesstrategie endlich aufgegeben hatte —, das kompliziert die Konfliktlinien in der US-Afghanistanpolitik.
Die Hoffnung nämlich, daß sich Khost nun anderswo und überall im Land wiederholen ließen, wäre eine Illusion. Die politischen und geografischen Voraussetzungen des Erfolges sind nicht realisierbar. Ohne die großzügige und gleichmäßige Versorgung der verschiedenen Mudschaheddingruppen um Khost mit Waffen und Material (und ohne eine bestimmte stammesmäßige Konstallation) wäre die Einheit der Gruppen nicht möglich gewesen. Und diese Voraussetzung — wie auch die massive und direkte Rolle der ISI bei der Einigung der Mudschaheddin-Gruppen — waren nur durch die Grenznähe der Stadt gegeben. Innerhalb Afghanistans sind die politischen und logistischen Realitäten nicht so, daß der Erfolg von Khost beliebig wiederholbar wäre. Das heißt nicht, daß die Mudschaheddin nicht in Zukunft den einen oder anderen Erfolg erzielen könnten — wie auch die Regierung. Der afghanische Krieg war aber kaum militärisch entschieden, daran hat sich nichts geändert.
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