ZWISCHEN DEN RILLEN

■ Dem eigenen Kulturwert erlegen: Neue Platten von Boa und den Neubauten

Famous last words: „Alles ist so müde, so schlecht.“ Also sprach Phillip Boa, der, wenn er Ernst macht, demnächst nach Malta auswandern wird. „Ich werde das Feld räumen — mal sehen, was übrigbleibt von der deutschen Szene ohne mich.“

Es ist jedermanns Liebling von 1986, der derart beleidigt Leine zieht, angeblich vergrault von Journalisten, die ihn „Großmaul“ und „größenwahnsinnig“ nannten, verfolgt von dem Gefühl, nichts gegolten zu haben im eigenen Land. Doch obwohl das permanente Protzen mit Taten und Namen („Phillip Boa tritt live in großen TV- Shows wie ,Spruchreif‘ auf... ,Hispaniola‘ schlägt ein wie eine Bombe... Journalisten schreiben sich die Finger wund... Die Streicher auf ,Helios‘, bis zu 14 auf einmal, hat uns Guy Chambers von World Party arrangiert“ usw.) selbst den Wohlmeinendsten auf Dauer vergraulen kann, ist das Problem Boas keineswegs der Größenwahn — wer im Popgeschäft hat den nicht, braucht ihn geradezu? Das Problem ist auch nicht, daß er vor einigen Jahren „zur Industrie“ gegangen ist. Schon gar nicht zieht der Vorwurf, Boa sei ein „Pseudoavantgardist“ ('FAZ‘). Das Problem mit Boa ist schlicht und einfach, daß er die einsame Lichtgestalt im deutschen Popdunkel, für die er sich hält, nicht ist. Die Bilanz seines Pop-Schaffens sind sechs LPs, die sich hören lassen können und neben viel Überflüssigem und Bemühtem einige wirkliche Highlights zu bieten haben — nicht weniger, aber eben auch nicht mehr.

Auch Helios, die Neue und wohl vorläufig Letzte, macht da keine Ausnahme. Ist doch sehr betulich das Ganze, krampfhaft bemüht, den Vogel abzuschießen. Selten einmal gelingen ihm wirkliche Popsongs wie im Eröffnungsstück And then she kissed her, es überwiegt der erlesene Bombast. Offenbar wollte Boa um jeden Preis eine Platte mit Vermächtnischarakter hinterlassen, und das tut der Gesamtatmosphäre nicht eben gut. „Sind wir denn in der Schule? Schreiben wir eine Klausur?“ wehrt er sich gegen den Pseudoavantgardismusvorwurf. Mit Verlaub, Meister, man könnte es fast denken bei all den griechischen Wörtern, wabernden Intros und aufgemotzten Streichern. Meilenweit jedenfalls ist das entfernt von der glamourösen Überdrehtheit eines Bowie oder Marc Bolan, mit denen Boa sich gerne vergleicht, oder vergleichen läßt.

Sicher, Phillip — „zu Fans bin ich immer freundlich gewesen“ — Boa ist „anders“ als andere deutsche Musiker, er hat tatsächlich versucht, Rock-Schemata aufzuweichen, einen eigenen Weg zu gehen. Doch in seinem Pochen auf dem internationalen „Format“, seinen Streber-Sounds, seiner gnadenlosen Selbststilisierung zum „Mann mit einer klaren musikalischen Vision“ hat er die Lagermentalität deutschen Rock 'n' Roll-Denkens nicht überwunden, er ist bloß deren unfreiwillige Parodie: Boa — unser Mann in New York. Wo andere die ehrliche, unprätentiöse Rockhaut raushängen lassen, kitzelt er den inneren Bildungsbürger. Ob die Sterne von Malta günstig stehen für verkannte deutsche Genies, muß sich freilich erst noch zeigen.

Wir bleiben beim Thema Medienschicksale. Die Koalition Heiner Müller/Einstürzende Neubauten mußte ja irgendwann zustande kommen. Nicht nur, weil es sich in beiden Fällen um Ästheten handelt, die das Theater der Grausamkeit beerben und Lärm/Expressivität/Pathos/Gebärdensprache als Mittel der Darstellung und Überschreitung behaupten, auch aufgrund einer gemeinsamen Entwicklung: beide, sowohl Müller als auch die Neubauten, sind längst zum Hätschelkind der Kulturszene geworden; keine Krise ohne Müller-Kommentar, kaum ein Theaterspektakel ohne die (seit einiger Zeit auch einzeln agierenden) Lärmprofis aus Berlin; Müller/ Bargeld auf sämtlichen Kanälen. Doch die Umarmung durch den Kulturbetrieb ist bekanntlich ein Todeskuß, und beiden droht mittlerweile das Schicksal aller Grausamkeitsästhetiker: zum Klassiker wider Willen zu verkommen.

Die Hörspielfassung der Hamletmaschine, 1990 in einem Studio der gerade verscheidenden DDR aufgenommen, macht gleich gar keinen Versuch, aus diesem Dilemma herauszukommen. Im Gegenteil: Sie klingt genau so, wie man sich vorstellt, daß es klingt, wenn Heiner Müller und Blixa Bargeld die Klamotten zusammenschmeißen. Zuerst Geräusche wie von zersplitterndem Glas, der Autor persönlich liest die Regieanweisungen, dann beginnt der Neubautenchef lauthals den Hamlet zu geben: „Ich stand an der Küste und redete mit der Brandung Blabla...“ Später kommt Gudrun Gut in der Rolle der Ophelia hinzu, umgeben von einer düster dräuenden Klangsilhouette, und sagt mit Trümmerfrauenstimme Dinge wie: „Willst du mein Herz essen, Hamlet“ oder „Ich gehe auf die Straße, gekleidet in mein Blut“. Auf diese Weise wird, nur von wohlvertrauten Neubauten-Sounds unterbrochen, der gesamte pathetische Müllerkram pathetisch runterdeklamiert, als ginge es um den ersten Preis in einem Vorlesewettbewerb. Daß es ausgerechnetder Text hat sein müssen, der im letzten Jahr im Rahmen eines Müller-Marathons in einer achtstündigen Aufführung auf offener Bühne exekutiert wurde, macht die Sache nicht unbedingt besser; es beweist allenfalls, daß die Hamletmaschine, was den literarischen Kultwert anbelangt, heute in etwa den Platz einnimmt, den Faust II für die fünfziger Jahre besetzt hielt.

Natürlich sind die Mechanismen der Klassikermaschine auf eine ironische Weise auch mitgedacht, wenn die Hamletmaschine in reclamgelber Aufmachung erscheint — von vornherein wie zum Anschauungsuntericht für die Oberstufe. Und tatsächlich gehört es zu den Lieblingsideen, die man angesichts der immer schon vielfältigen Müller- bzw. Neubauten-Aktivitäten haben konnte, daß diese Leute heitere und unantastbare Avantgardeolympier wären, von keiner herangetragenen Sinnsuche wirklich festzulegen. Wenn Müller mal wieder in irgendeiner Aspekte-Sendung wild drauflosschwadronierte, saß da nicht doch irgendwo der Schalk in den von Ostmelancholie umwehten und zugleich mit allen Westwassern gewaschenen Augen? Wenn die Neubauten ihre martialischen deutschen Geräusche bastelten und eine LP Haus der Lüge nannten, war das nicht Ausdruck höherer Scharlatanerie? War, mit anderen Worten, inmitten des ganzen Kulturgetöses nicht doch etwas Unvereinnahmbares am Werk, der Rummel um Person und Aussagen also nicht allein Ausdruck des Dilemmas heutiger Avantgarde, sondern zugleich deren Reflexionsform? Als Bluff, Blödsinn, Fake, wie auch immer? So kreuzbrav wie das Hamletmaschinchen hier daherdeklamiert kommt, ist freilich wenig noch davon zu spüren; viel eher gruselt man sich vor dem Eindruck, daß die beteiligten Darsteller nun doch ihrem eigenen Kulturwert erlegen sind

Phillip Boa&The Voodoo Club:

Helios, Polydor

Einstürzende Neubauten/Heiner Müller:

„Die Hamletmaschine“ (Ego/Rough Trade)

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