Was bleibt, wer kommt, wer geht?

Hundert Gerüchte, drei Intendanten und eine Stimme aus der Vergangenheit zur Zukunft der Opernstadt Berlin  ■ Von Elisabeth Eleonore Bauer

Immer und immer wieder taucht die Frage auf: Sind nicht drei Opernhäuser für Berlin zuviel? Ich möchte diese Frage nicht beantworten, bevor ich einen historischen Überblick gegeben habe, der beweisen wird, daß Berlin seit dreißig Jahren stets drei Opernhäuser gehabt hat.“

(Otto Klemperer am 5. April 1931 in der 'Deutschen Tonkünstler-Zeitung‘)

Immer noch und immer wieder stimmt an Klemperers weisen Worten jedes Jota. Auch heute z.B. hat Berlin seit genau dreißig Jahren drei schöne Opernhäuser: 1. die Komische Oper in der Behrenstraße, gegründet 1947; 2. die Staatsoper Unter den Linden, wiedereröffnet 1955; und 3. die Deutsche Oper in der Bismarckstraße, errichtet am alten Platze der Städtischen Oper Charlottenburg und eingeweiht im Jahre 1961. Das war sechs Wochen nach dem Mauerbau. Und heute — im Jahre eins nach dem Fall der Mauer— ist in Groß-Berlin mal wieder Operndämmerung angesagt. Nicht die erste und gewiß nicht die schlimmste Krise dieser Art. Gleichwohl erregt sie die Gemüter, kochen seit Wochen die Gerüchte, hagelt es kurzbündig Presseerklärungen, säuselt es weitschweifig Fensterreden. Es scheint, als sei plötzlich größte Eile geboten. Von all den Problemen, die sich auftürmen in der Kulturpolitik der wiedervereinigten Stadt, muß offenbar das der drei Opernhäuser unbedingt als erstes gelöst werden. Noch in diesem Monat, Mai, so hat Senator Roloff-Momin verkündet, soll das „Gesamtkonzept“ für die Staatsoper Unter den Linden vorliegen. Jeder weiß, dieser Beschluß beträfe die beiden anderen Häuser in mindestens gleichem Maße. Jeder ahnt, als Vorgabe für die administrative Verplanung der Opernstadt Berlin darf das Anfang April veröffentlichte Gutachten gelten, das Ivan Nagel & Co. im Senatsauftrag superschnell geschrieben haben. Alle, auch die Gutachter, sind grundsätzlich der gleichen, der einzig richtigen Meinung: drei sind keines zuviel. Drei, zuzeiten vier, die nichtstaatlichen Bühnen mitgerechnet, fünf oder mehr Opernhäuser wären ja wahrhaftig für eine Groß- oder Haupt- oder Regierungsstadt gar nichts Besonderes.

Aber auch keine Kleinigkeit. Die Oper ist uns nämlich allen sehr teuer. Ein stehender Opernbetrieb kostet so viel, wie ein Orchester plus Chor plus Sänger plus Ausstattung plus Erhaltung und Verwaltung tagtäglich kosten. In Zahlen: Die Deutsche Oper hatte 1988 einen Jahresetat von rund 88 Mio. DM, wovon bei einer etwa achtzigprozentigen Platzausnutzung ca. 14,7 Mio. DM wieder eingespielt wurden — der Rest war Subvention. Die Lindenoper verbrauchte im gleichen Rechnungsjahr ca. 37 Mio. Ostmark, die Platzausnutzung lag bei über 90 Prozent, eingespielt wurden nur etwa drei Millionen Ostmark. Müßte die Oper sich also über ihr Publikum finanzieren, gingen alle Opernhäuser der Welt augenblicklich bankrott. Oper ist ihrem Wesen nach defizitär — einst aristokratischer Luxus, heute eine Staatsangelegenheit. Das heißt: Wenn die Oper schon von staatlichen Geldern lebt, will man mit ihr auch Staat machen können. Bei den meisten Opernkrisen war und ist dies der neuralgische Punkt. Auch in den guten alten Zeiten, als Theatermachen noch vorwiegend risikoreiche Privatsache war, wurden die drei Berliner Opernhäuser staatlich gestützt und hatten sie von Fall zu Fall deshalb Knatsch. Ob Anfang der zwanziger Jahre im „Fall v. Schillings“ oder Anfang der Dreißiger im „Fall Kroll“ — ausschlaggebend ist nicht das Geld an sich, sondern der Einfluß, den die Geldgeber geltend machten.

„Im Juli 1931 wurde die Kroll- Oper geschlossen. Warum? Aus finanziellen Gründen bestimmt nicht, sie brauchte nur 150.000 Mark Subvention. Aber sie war den damaligen Machthabern in Deutschland ein Dorn im Auge, sie war ihnen zu liberal, und sie hatten Angst vor den heranziehenden Nazis.“

(Otto Klemperer, 1933)

Was den aktuellen Opernpoker in Berlin anbetrifft, so redet niemand mehr von möglichen Schließungen, und selbstverständlich sind sich die Teilnehmer am Tisch auch in einem anderen Punkt völlig einig: Bezahlen soll der Bund. Allerdings brauchen die Freunde der Berliner Oper in der gegenwärtig schweren Stunde gute Argumente, um die Bonner Politiker sowie die übrigen Bundesbürger von der Schwäbischen Alb bis zur sächsischen Schweiz davon zu überzeugen, daß ausgerechnet diese Stadt drei Opernhäuser nötig hat. Ungeachtet dessen, daß die Millionen noch in den Sternen stehen, wird deshalb zunächst geklärt, wieviel jedes Haus mit welcher Legitimation künftig kriegen muß. Der Senator seinerseits hat jetzt alle drei Opernhäuser dringend aufgefordert, „Profil zu beweisen“. Fürs Senatsgutachten freilich stehen diese Profile bereits fest: Jedem Haus werden da für die Zukunft eine spezielle Aufgabe, ein Etikett, die passenden Spielplanempfehlungen sowie der dazugehörige Etat verpaßt. Worüber vor allem Götz Friedrich, Generalintendant der Deutschen Oper, einigermaßen außer Fassung geraten ist.

Friedrich: „Eine Aufgabenzuweisung der Art, daß die Lindenoper als eine repräsentative ,Hofoper‘ — unser Haus hier als billige ,Bürgeroper‘ eingestuft wird, ist eine grandiose Fehleinschätzung. Wir wollen wohl froh darüber sein, daß die Charlottenburger Oper einmal aufgrund von Bürgerinitiative entstanden ist. Wenn nun das Programm der Deutschen Oper unter dem Zeichen des Citoyen, im Sinne einer republikanischen Kultur verstanden würde, dann hätte ich ja gar nichts dagegen. Aber so meint Ivan Nagel das in seinem Gutachten sicher nicht. Andererseits glaube ich, daß die Staatsoper Unter den Linden etwas dagegen hat, als ,Hofoper‘ bezeichnet zu werden. Wobei sich bestimmte, von uns hochverehrte Politiker freuen mögen, wenn sie sich auf der Balustrade eines wunderbaren Knobelsdorffschen Baues zeigen können. Insofern also doch: eine ,Hofoper der Republik‘? Das ist doch Unfug!“

Die Deutsche Oper, vorläufig noch reiche Westtante und gewissermaßen als eine repräsentative Staatsoper des Landes Berlin den anderen um Längen voraus, rutscht im Planspiel zurück auf den zweiten Rang: sie möge künftig, so heißt es, wieder städtisch verwaltet werden und sich begnügen mit dem „eigenen Ensemble“ sowie dem sogenannten „breiten Repertoire“. Die Lindenoper aber soll zu einem exklusiv-ehrgeizigen Stagionebetrieb aufsteigen, wozu nur das Weltbeste gewünscht wird. Das meiste Geld zunächst sowie schnurgerade daraus folgend Weltrang, Weltoffenheit, weltläufige Regisseure, weltberühmte Sänger — sowie zum Leiter einen „Musiker von Weltruf“: Daniel Barenboim. Der ließ sich nicht lumpen und sagte, kaum daß das Gutachten heraus war, so gut wie zu. So gut wie — das heißt soviel wie: noch lange nicht. Zwar kam Barenboim zu weiteren Verhandlungen in die Stadt und tat in guter alter Kennedy-Tradition kund, auch er sei ein Berliner. Zwar hatte die Springer-Presse, freudig bewegt, gleich eine ganze Latte Namen parat für Barenboims „voraussichtliches Leitungsteam“: Harry Kupfer (derzeit noch Gütesiegel der Komischen Oper), Lutz von Pufendorf (Jurist und vormals Berlin-Politiker) sowie Eva Wagner-Pasquier (aus dem alten Pariser Barenboim- Team). Zwar meinte auch der Intendant der Lindenoper, Günter Rimkus, die Sache sei jetzt zu 99 Prozent sicher. Bloß hat Rimkus, der längst gegangen worden ist und sein Amt nur mehr interimistisch verwalten darf, offiziell nicht mehr viel zu sagen. Freilich auch nichts mehr zu verlieren.

Rimkus: „Ich habe mit meiner ehemaligen Partei gebrochen. Ich habe sehr darunter gelitten. Das ist ein Grund, warum ich den Stuhl hier freigemacht habe. Ich könnte natürlich auch sagen: Ich habe doch nichts verschuldet, ich habe die Staatsoper in einem würdigen künstlerischen und organisatorischen Zustand in den Einigungsprozeß eingebracht, und darum bestehe ich jetzt darauf, mit Barenboim anzufangen und in zwei Jahren unsere 250-Jahr-Feier mit auszugestalten. Ich tue das schweren Herzens nicht. Ich habe meine Position zur Verfügung gestellt, und das bewegt mich schon. Aber wenn ich denke, daß jetzt hier eine neue Mannschaft antritt, und ich werde dann gerade noch so geduldet und bin die Altlast, das wäre schrecklich.“

Was Günter Rimkus im einzelnen zum Berliner Opernpoker zu sagen hat, hat Hand und Fuß. Er kann es sich leisten, erstens. Zweitens ist er ein alter Theaterhase, der schon vor 39 Jahren als Dramaturg an die Lindenoper kam — er kennt sich darum vorzüglich aus hinter allen Kulissen. Und übrigens war es Rimkus, der als erster auf die Idee gekommen ist, Barenboim nach Berlin zu holen. Vom Kultursenator hält er viel, vom Senatsgutachten wenig.

Rimkus: „Das ist ein Papier, das ich gelesen und in die Schublade gesteckt habe. Daß da Rezepte verteilt und die Häuser kategorisiert werden, so geht's nicht. Es hat auch an unserem Hause Unruhe gegeben, wenngleich die Staatsoper ganz gut weggekommen ist. Aber da ist z.B. ein bißchen ausgeplaudert worden, was Barenboim konzeptionell vorhat mit dem Stagionebetrieb, den er dann selbst vor unseren Solisten neulich ganz anders dargestellt hat. Solange wir hier nicht ein ausgewachsenes Anrechtssystem haben wie in Italien, kann man nicht achtmal hintereinander ein Werk spielen, das neu zur Premiere gebracht worden ist, und dann in den nächsten Monaten noch mal und noch mal in anderer Besetzung. Aber das haben wir schon vorher gewußt, daß man darüber mit Barenboim reden muß. Ein anderer Streitpunkt ist, daß Barenboim, der ja ganz richtig nicht nur als musikalischer, sondern als künstlerischer Leiter benannt wird, noch einen Dramaturgen neben sich haben soll, der— ich weiß nicht wofür — ihm dann sozusagen die Einsätze gibt.“

Offenbar will sich augenblicklich niemand in Berlin daran erinnern: daß vor zwei Jahren in Paris schon einmal ein Barenboim-Vertrag auf spektakuläre Weise geplatzt ist. Auch da ging es vordergündig ums Geld und tatsächlich um den staatlichen Zugriff aufs künstlerische Konzept. Kultusminister Jack Lang wollte Barenboim kurzerhand den Manager Pierre Bergé vor die Nase setzen, um die phantastischen künstlerischen Höhenflüge, die der designierte Chef der Bastille-Oper angekündigt hatte, wieder pragmatisch auf den Teppich zu holen. Man erinnert sich in Berlin nur ein bißchen implizit: Das Gutachten will die „Leitungsstruktur der Lindenoper“ gleich dreifach abgesichert wissen und fordert neben besagtem Dramaturgen noch eine erfahrene Führungskraft für den „hochprofessionellen Betrieb“. Der Senat führt die Verhandlungen mit Samtpatschen und hält die Presse auf Diät. Nur Rimkus sagt offen, was Sache ist:

„Barenboim muß sich nicht nur zu Berlin bekennen, er muß sich auch für Berlin entscheiden.“

Die Sache wäre einfach genug: Weder kann ein Überhang an Planung und Verwaltung Konflikten aller Art vorbeugen, noch ist es ausgemacht, daß ein Musiker von Weltruf auch automatisch zum Opernchef taugt. Man muß den Pudding essen. Und dann bleibt für alle Fälle immer noch die tröstliche Gewißheit, daß Flops und Skandale nirgendwo so häufig und so publikumswirksam verkraftet werden können wie an Opernhäusern. Die Deutsche Oper hat diese Erfahrung in dieser Saison gerade wieder einmal hinter sich gebracht. Im Sommer machte der Fall Sinopoli noch Schlagzeilen — im Herbst, als der Maestro zur Salome- Premiere ans Pult trat, da gellte die Claque „Sinopoli hierbleiben“ und „Friedrich raus“. Diesmal ging es nämlich ausnahmsweise um den zweithäufigsten und wohl ältesten Krisenherd der Oper: den Machtstreit zwischen Musik und Wort, Chefdirigent und Chefregisseur. Letzterer, in diesem Falle zugleich Intendant, wurde zwar noch vom eigenen Orchester gescholten und in der Lokalpresse kräftig angepöbelt, doch spätestens seit der Otello-Premiere im Februar wehen wieder mildere Winde.