„Überbevölkerung“ — nur ein Mythos

■ Nicht die Natur, sondern das Ausbleiben politischer Reformen ist für die katastrophalen Folgen der Überschwemmungen in Bangladesch verantwortlich/ Internationale Hilfe läuft zögernd an

Neu Delhi (dpa) — In Bangladesch spielt sich eine Tragödie unvorstellbaren Ausmaßes ab. Doch die internationale Hilfe läuft nur schleppend an. Ganze 160 Millionen Dollar hatten etwa 20 Staaten bis zum Sonntag aufgebracht. Deutschland, das mehr als 400 Millionen Mark für kurdische Flüchtlinge gab, bewilligte bislang nur fünf Millionen für Bangladesch. Wo liegt der Grund für diese Zurückhaltung, wenn das Leben Hunderttausender auf dem Spiel steht?

Diese Reaktion der Welt ist nicht allein auf die „Spendenmüdigkeit“ der reichen Industrieländer zurückzuführen. Sie reflektiert vielmehr ein Bild von Bangladesch, das in den letzten 20 Jahren systematisch aufgebaut worden ist. Bangladesch, das klassische Land der Überbevölkerung, in dem „die Natur sich selbst hilft“. „Warum ziehen die Menschen auf die ungeschützten Inseln? Hätten sie weniger Kinder, brauchten sie das Risiko nicht einzugehen.“

Sätze wie diese sind allüberall zu hören und zu lesen in diesen Tagen. „Statt Weizen hätte man dort Pillen und Präservative verteilen sollen“, äußerte ein deutscher Journalist. Doch die Wirklichkeit der Verhältnisse in Bangladesch ist komplizierter. Entwicklungsexperten aller politischen Couleur sind sich weitgehend einig, daß vor allem Armut Kinderreichtum schafft. Wer nichts zu essen hat, wer nicht weiß, wie er im Alter überleben soll, oder wie alt das gerade Geborene wohl wird, und wer nichts darüber lesen kann, der hat viele Kinder. Die gleiche Situation herrschte in vielen Gebieten Europas um die Jahrhundertwende auch noch vor. Eine gerechtere Verteilung der Ressourcen und der politischen Macht haben diese Situation in Europa geändert.

Das Deltaland Bangladesch ist so fruchtbar wie kaum eine zweite Region dieser Welt. In einigen Gebieten sind vier Ernten im Jahr möglich. Eine Entwicklungsstudie stellte schon 1982 fest, Bangladesch könne, politische Reformen vorausgesetzt, seine damals 100 Millionen starke Bevölkerung in etwa vier Jahren selbst ernähren. Doch diese Reformen gab es nicht.

Die herrschende Schicht im Land hat seit der Unabhängigkeit konstant ihre Position gesichert. Die Hälfte der Bauern Bangladeschs ist landlos, eine kleine Gruppe von Großgrundbesitzern verfügt über einen Großteil des Landes. Die demokratisch nie legitimierten Regierungen haben sich aus Gründen des Machterhalts während der letzten 20 Jahre stark auf diese Landbesitzerschicht, die Verwaltung oder die Armee gestützt. Deshalb wurde hier investiert und nicht in die Gesundheitsvorsorge, in Alphabetisierungskampagnen oder andere Programme, die die Geburtenraten nachweislich senken.

Einen wesentlichen Teil der Gelder, die die Regierung den sie stützenden Gruppen zukommen ließ, erzielte sie aus dem Verkauf von Getreidehilfslieferungen. Studien belegen, daß die Regierung von Bangladesch in der Vergangenheit zu wenig zur Erhöhung der landwirtschaftlichen Produktion unternahm, aber viel zur Erhöhung der Hilfslieferungen. Deren preisgünstiger Verkauf an politisch sensible Gruppen stellte diese zum einen „ruhig“ und diente zudem der Finanzierung eines Haushalts, der auch absurd hohe Aufwendungen für die Armee einschloß. Den landlosen Bauern dagegen blieb ihre Armut, ihr Kinderreichtum ebenfalls. So müssen sie in die fruchtbaren, aber flutgefährdeten Gebiete des Deltas abwandern, in denen sie jetzt erneut zu Hunderttausenden ertrinken und verhungern.

Kritiker meinen, daß die Entwicklungshilfe, die die reichen Länder Bangladesch in den letzten 20 Jahren gab, aus wohlverstandenem Eigeninteresse gewährt wurde und daß sie damit zudem politische Strukturen im Land gestärkt habe, die für die jetzige Situation unmittelbar verantwortlich sind. Andererseits gibt es nur spärliche Hinweise auf Aktionen der Geberländer, mäßigend auf die Militärdiktatoren einzuwirken, die das 20 Jahre alte Land weitgehend regiert haben. Angesichts des demokratischen Aufbruchs und angesichts einer eindrucksvoll fairen Parlamentswahl im Februar wird das Ausbleiben einer großzügigeren Hilfe immer weniger verständlich. Heinz-Rudolf Othmerding