Was macht die Frauen im Osten verrückt?

■ Interview mit Annette Simon, Psychosen-Therapeutin im Ost-Berliner Krankenhaus Herzberge, über die psychische Befindlichkeit im Osten

taz: Als wir uns vor einem halben Jahr zum ersten Mal unterhielten, lautete Ihre These zum bevorstehenden Tag der deutschen Vereinigung: »Die Aufhebung der Spaltung ist ein äußerst schmerzhafter Prozeß.« Diesen Prozeß erleben wir derzeit, aber er hebt die Spaltung nicht auf, sondern vertieft sie zwischen den beiden Deutschländern. Psychisch angeschlagene Menschen, wie Sie sie betreuen, sind ja oft besonders sensibel gegenüber gesellschaftlichen Veränderungen. Wie erleben Ihre Patientinnen und Patienten die gegenwärtigen deutsch-deutschen Spannungen?

Annette Simon: Sie erleben sie als Zerrissenwerden zwischen den verschiedenen Anforderungen. Als »Ossis« — diese Klischeebegriffe wie Ossi, Wessi, Seilschaften, Abwicklung habe ich wirklich hassen gelernt, aber nun gut — können sie das alte Wertesystem nicht einfach abstreifen, und jetzt kommen die neuen westlichen Anforderungen auf sie hereingestürzt. Wie sollen sie sich da orientieren? Wo die eigene Identität finden? Die Aufhebung der Spaltung findet nicht statt, wohl aber der schmerzliche Prozeß des Zurechtkommens mit der neuen Realität. Das ist doppelt schmerzlich, weil fast alle Patienten arbeitslos sind: Menschen mit psychischen Krankheiten gehören oft zu denen, die als erste entlassen werden. Für sie findet keinerlei Dialog zwischen West und Ost statt, keinerlei Zuhören — höchstens ganz individuell. Aber schon wenn vier oder fünf Westler und Ostler aufeinandertreffen, geht‘s hart auf hart. Aber auch nicht als wirklicher Dialog, leider werden meistens die Vorurteile von beiden Seiten nur noch von hier nach dort geschleudert. Zum Beispiel haben sich in TV- Talkshows die Leute des öfteren fast massakriert.

Ist der Dialog also in den Klischees stecken geblieben? In den Schimpfkanonaden der Ostler über die »Besserwessis« und der Westler über die »Jammerlappen«?

Anscheinend. Das wird wohl noch eine Weile so gehen, angesichts der ökonomischen Katastrophe. Es geht viel kaputt, was so schlecht nicht war, was es wirklich nicht verdient hat. Interflug oder andere Unternehmen, ach was, wo man hinguckt. Im Gesundheitswesen, das ich ja nun gut kenne, wird westlicherseits überhaupt nicht wahrgenommen, was hier eigentlich gut war. Viele westliche Ärzte sind höchst unzufrieden mit dem System, in dem sie immer nur Patientenzahlen und Krankenscheine abschrubben müssen, aber das wird nun auch uns übergestülpt. Dafür werden jetzt die Polikliniken qua Ministerspruch von oben eingeebnet, die waren wahrhaftig nicht so schlecht. Freya Klier hat neulich geschrieben, nun würden in der Ex- DDR die Negativa beider Systeme zusammenkommen. Euer Kapitalismus, der sich bei uns aggressiv-frühkapitalistisch austobt, wird bei uns durch diesen gräßlichen Untertanengeist zusätzlich genährt. Nach dem Motto: Wenn der Kapitalist die Parole ausgibt, wird sie nach unten durchgebuckelt. Wir hätten sicherlich vieles verhindern können, wenn es von vornherein massiven Widerstand gegeben hätte, wenn Betriebsbelegschaften sich verweigert hätten, wenn wir alle an allen möglichen Stellen Rabatz gemacht hätten. Doch das machen die Leute halt nicht. Viele denken jetzt: Wer das größte Schwein ist, der kommt am besten durch.

Auch in Ihrem eigenen Umkreis?

Ja. Bestimmte Personen haben zum Beispiel gemeinsame Arbeitsergebnisse in der Öffentlichkeit nur als ihre eigenen ausgegeben und so weiter.

Und deswegen ärgere ich mich, wenn ich das östliche Jammern höre: »Wir sind kolonialisiert worden.« Habt ihr sie etwa nicht herzlich eingeladen, die Kolonialisatoren? Verdrängt ihr da nicht schon wieder den eigenen Anteil an der Geschichte, die eigene Aufforderungshaltung?

Das sehe ich genauso. Wir als Gesamtheit der Ex-DDR-BÜrger sind nicht kolonialisiert worden, wir haben alles für den Westen bereitet, die Leute haben mehrheitlich den Kohl gewählt. Daß sie dies getan haben, das ist ein DDR-Produkt und keine Schuld des Westens. Das ist Produkt des Eingesperrtseins und der mangelnden Welterfahrung.

Über die Frage, was man hier anders hätte machen sollen, habe ich sehr viel nachgedacht. Wahrscheinlich lag unser Scheitern als Opposition daran, daß wir von Anfang an keine funktionierenden Strukturen hatten und letztlich auch viel zu wenige waren. Als plötzlich alle meine Freunde und Bekannten an all den Runden Tischen oder in den verschiedenen Regierungen saßen, wurde mir erst klar, wie wenige zu solcher Arbeit fähig und auf sie vorbereitet waren. Nach der Wende hatte die Bürgerbewegung eine Scheu davor, nun selbst den verhaßten Vormund zu spielen und eine Struktur vorzugeben, Macht und Verantwortung zu übernehmen.

Hätte sie im November 1989 die Macht übernehmen können?

Naja, zugegeben, im Grunde sind wir damals alle überrollt worden. Als im Spätsommer 1989 die ersten hundert die Forderung nach Zulassung des Neuen Forums unterschrieben haben, dachten wir noch: Mensch, wie toll. Und dann kamen diese Massen von Unterschriften, von denen wir selbst völlig plattgewalzt wurden. Es war überhaupt nicht in unseren Köpfen, daß das eine Massenbewegung werden könnte, der man vielleicht auch vorstehen und ein Programm bieten müßte. Insofern hatten wir womöglich auch überhaupt keine Chance. Das alte System war lahmgelegt und neue Strukturen noch nicht entstanden.

Vor allem ökonomisch hattet ihr keine Chance...

Wahrscheinlich. Selbst wenn wir hinter einer weiterbestehenden Mauer einen neuen anderen Staat geschaffen hätten, wären wir wohl irgendwann zahlungsunfähig geworden und hätten uns doch wieder an den Westen anlehnen müssen.

Es stimmt auf jeden Fall, daß es hier gegenüber dem westlichen Einkassieren zu wenig Widerstand gab, der ist einfach nie gelernt worden. Die paar, die zum Widerstand fähig sind, praktizieren ihn ja schon die ganze Zeit. Aber das ist nunmal nur ein kleines Grüppchen — das sieht man ja im Bundestag, an diesen neun Hanseln, die von den anderen zu wenig ernstgenommen werden und überhaupt nicht wissen, wie sie dieses gräßliche Bonn überleben sollen.

Bleibt der Kapitalismus nun mit Recht das einzige System, das sich weltweit durchsetzt?

Er scheint sich momentan als das effektivste System erwiesen zu haben, als das menschlichste nicht. Ob es dabei bleibt, das ist die Frage, die für uns wie für euch unbeantwortet bleibt.

Ein Jahr lang, zwischen 1989 und 1990, gab es anscheinend einen Silberstreif am Horizont der Menschheit. Ist der nun mit dem Golfkrieg als erstem Krieg der sogenannten Neuen Weltordnung verschwunden?

Ja, das sehe ich schon so. Es war kein Zufall, daß der Golfkrieg gerade jetzt stattfand, wo die Sowjetunion geschwächt ist. Jetzt gibt es keinen Widerstand auf internationaler Ebene mehr, sondern nur noch in den einzelnen Ländern selbst — und dort war er zu schwach, um diesen Krieg zu verhindern. Und dieses ganze furchtbare sinnlose Gemetzel ist ja noch lange nicht zu Ende.

Hier muß ich mir sehr genau überlegen, wo denn eigentlich mein Platz ist — wo ich gegen diese Zustände kämpfen kann, ohne im gesellschaftlichen Abseits zu stehen, wie viele meiner westlichen Freundinnen oder Kolleginnen. Die haben zwar ihre Praxis und gehen mit ihren Patienten gut um, aber in der Gesellschaft finden sie nur schwer eine wirksame Rolle. Und das möchte ich nicht. Ich möchte nicht zu meinen Patienten lieb sein und draußen die Stürme toben lassen. Aber ich finde es irrsinnig schwer, in eurem System Widerstand zu leisten, ohne in einer terroristischen oder einer abgedrehten New-Age-Ecke zu landen. Und in eurem Wertesystem Erfolg zu haben, davor habe ich auch Angst: Bei euch ist es ja so ungeheuer wichtig, ob man bekannt ist oder nicht, und wenn man bekannt ist, wird man sofort vereinnahmt und festgelegt auf eine einzige Rolle.

War das so viel anders bei euch?

Ja, weil die Öffentlichkeit fehlte. In unserem alten System kam ich als Oppositionelle nie in die Gefahr, in die Öffentlichkeit zu gelangen, Erfolg zu haben. Damals hatte man keine Wahl, jetzt hat man sie. Ich will wirksam sein, und gleichzeitig will ich nicht vereinnahmt werden — und habe keine Ahnung, wie ich das schaffen soll. Bei uns war alles so eindeutig und schwarzweiß, entweder man war oppositionell oder angepaßt und kaum etwas dazwischen. Heute ist alles ungeheuer mehrdeutig und differenziert — sowohl die Menschen als auch die Möglichkeiten. Auch mir macht das zu schaffen. Jetzt muß ich lernen, zu taktieren und diplomatisch zu sein.

Lernen jetzt auch die Massen zu differenzieren? Ist nun die Trendwende gegen Kohl und für die SPD vollzogen?

Es sieht so aus, auch nach den Meinungsumfragen ist Kohls Popularität ja stark angeknackst. Andererseits kommt mir das ziemlich billig und abgeschmackt vor. Die eine Autorität hat sie enttäuscht, dann laufen sie halt zur nächsten. Vielleicht auch zu Leuten mit antikapitalistisch-rechtsradikalen Parolen. Die Menschen hier sind so entsetzlich unreif gehalten worden, als Erwachsene laufen sie immer noch im Laufställchen. Doch die Zeit für einen Reifeprozeß fehlt. Die Leute schreien auf, weil ihr Arbeitsplatz weg ist, weil alles so ungerecht ist, und kommen überhaupt nicht dazu, tiefer nachzudenken.

Wie kann man gesellschaftliche Reifeprozesse organisieren?

Das ist für mich auch die Frage. Zum Beispiel über die Medien, die tiefgründigere Arten von Aufarbeitung präsentieren könnten. Aber im Ost-Fernsehen zum Beispiel findet das nach wie vor zu wenig statt. Und für das nötige massenhafte Nachdenken ist auch sonst einfach kein Raum, weil die Menschen zu sehr mit ihrem Alltag und ihren Existenzängsten beschäftigt sind. Hinzu kommt die moralische Aggression der Westler nach dem Motto »Was habt ihr alles mitgemacht?« — die Leute fühlen sich schuldig, sind aber nicht in der Lage, das gegenüber aggressiven Außenstehenden zuzugeben. Das geht nur innerhalb dieser Ost-Gesellschaft, in einem geschützten Raum, und den gibt es nicht.

Ist das ein Grund zum Verrücktwerden für Ihre Patienten?

Das wäre einer für mich. Ich will etwas tun und habe eigentlich auch die Kraft dazu, aber ich weiß einfach nicht, was sinnvoll ist.

Haben Sie überhaupt noch positive Utopien?

Nein, im Moment nicht mehr. Ich habe auch früher nicht an die Erlösung von allem Übel im Kommunismus geglaubt, aber dennoch waren mir die Möglichkeiten gerechter Verteilung der gesellschaftlichen Güter immer wichtig. Der Kapitalismus scheint jetzt das effizienteste System zu sein, aber damit auch das tödlichste für die Umwelt und für ganze Weltregionen. Die Menschen, die hier in der Hochkultur des Kapitalismus leben, können ihn natürlich genießen. Ich persönlich kann das allerdings immer nur mit schlechtem Gewissen. Mir kommt das vor, als ob wir auf einem rollenden Stein sitzen und uns königlich freuen, wie wir in den Abgrund rutschen und den rauschenden Abfahrtswind loben.

Und warum rennen eure Frauen nicht schreiend auf die Straße? Sie sind doch diejenigen, die unter den neuen Bedingungen am meisten leiden, denen es am eindeutigsten schlechter geht als zuvor.

Ich bin eingeladen worden, auf der Volksuniversität das Thema »Was macht Frauen jetzt verrückt« in einem Vortrag zu behandeln. Es ist kein Zufall, daß gerade in letzter Zeit so viele Frauen psychisch krank geworden sind, sehr viel mehr als in der Zeit der Wende. Sie verkraften all die neuen Anforderungen nicht, und sie haben, wir alle haben außerdem viel weniger Zeit als früher, weil wir alle in kürzester Zeit einen unglaublichen Berg an bürokratischen Vorgängen abarbeiten mußten: Versicherungen, Kindergeldanträge, all dieses Zeug... Wir müssen unsere eigene Existenz absichern, wir müssen uns um die Unterbringung unserer Kinder kümmern, denn wir Ost-Frauen haben ja fast alle Kinder.

Zudem scheinen sich jetzt überall die Paare zu trennen. Offenbar unter dem Eindruck: Naja, jetzt ist alles neu, jetzt wagen wir auch hier einen neuen Aufbruch. Und das ist für die Frauen oft schlimm, weil sie jetzt mit ihren Kindern alleine dasitzen und ungeschützter sind als früher.

Und dann kommt noch etwas Besonderes hinzu: der neue Sexdruck. Die Männer rennen nun alle in die Pornofilme und die Pornoläden und kaufen neue Reizwäsche und fordern ihre Frauen auf: »Na, nu soll auch mal was stattfinden.« Auch in den Illustrierten liest man nur noch so ein Zeugs wie zum Beispiel das: »Neue Sexwelle in der Ex-DDR — Frau Susi S. aus Dresden empfängt ihren Mann mit einem kurzen Striptease, wenn er von der Arbeit kommt.« Das also wird jetzt als neue Norm propagiert: Der Wessi ist auch sexy, oder porny, und das muß der Ossi jetzt auch. Das geht hauptsächlich von den Männern aus, aber auch von den Frauen. Ich kann nicht begreifen, wie die sich freiwillig in diese neue Strapskultur reinbegeben können. Dazu scheint offenbar auch die Bereitschaft vieler Frauen zu gehören, an Miß- und Model-Wahlen teilzunehmen. Katharina Witt geht als Model nach New York, unsere Hundertmeterläuferin Krabbe läßt sich von irgendeiner Kosmetikfirma als Grace Kelly stylen, eine aus Magdeburg wird Miß World... Das soll wohl als Ansporn für das neue Frauenbild dienen: Guckt mal, auch in der Ex-DDR kann man Miß World werden, wenn man immer schön brav die Fingernägel feilt. Selbst in Pankow wird jetzt die »Miß Pankow« gewählt. Und die, die da mitmachen, werden offenbar von dem Gefühl getrieben: Wenn du dich da raushältst, verpaßt du etwas und bleibst auf der Strecke. Du mußt unbedingt versuchen, auf den neuen Zug aufzuspringen, entweder in der Arbeit oder durch Sex. Und in der Anpassung an diese dämlichen neuen Ideale geht eine Menge weiblicher Energie flöten. Die Frauen fühlen sich für alles verantwortlich, für den Mann, für die Kinder, für die zwischenmenschlichen Beziehungen, und auch dadurch stabilisieren sie das System, das ihnen die Kraft raubt.

Und bleiben nun ihr Leben lang im Heim am Herd sitzen?

Ich bin da eigentlich gar nicht so pessimistisch: Ich denke, die Frauen werden sich schon noch massiv zu Wort melden.

Und warum nicht schon jetzt?

Gegenwärtig, so glaube ich, sind sie noch zu sehr verunsichert durch die Westfrauen. Oder vielmehr durch die verschiedenen Frauenbilder aus dem Westen. Schematisch gesagt, gibt es drei: das angepaßte bürgerliche Modeweibchen, die harte Karrierefrau und die Feministin. Letztere gehen den Ost-Frauen manchmal auch gehörig auf den Senkel, wenn sie ihnen vorwerfen: Was habt ihr denn die ganze Zeit gemacht, ihr habt ja mit Männern geschlafen. Sie übersehen dabei völlig, daß die westliche Frauenbewegung sich unter anderen materiellen Umständen ganz anders entwickeln mußte als die östliche: Ihr habt meistens keine Kinder, wir haben meistens welche... Allein das schafft völlig unterschiedliche Lebensverhältnisse.

Also funktioniert auch der Dialog zwischen den Frauen nicht?

Das will ich nicht so generell sagen, das sind jetzt nur persönliche Erfahrungen von mir und meinen Freundinnen. Aber ich glaube tatsächlich, ein Problem dabei ist die Härte, die sich viele West-Frauen selbst anerziehen mußten, um gesellschaftlich anerkannt zu werden. Die hatten wir so nicht nötig, und wir haben Schwierigkeiten, die zu akzeptieren.

Zwischen Ost-West-Paaren ist das, glaube ich, aber noch viel schlimmer. Eine Patientin von mir beispielsweise hat sich in einen West-Mann verliebt, der nun von ihr verlangt, daß sie zu ihm zieht, daß sie ihren Beruf aufgibt und sich ganz in sein Umfeld hineinbegibt. Umgekehrt würde er natürlich niemals zu ihr ziehen. Und damit kommt sie jetzt in ganz große Schwierigkeiten. Das ist auch ein Grund, warum Frauen so viel Energien verschleudern: Sie machen zuviele Kompromisse, um einen Mann zu kriegen oder zu halten. Das Gespräch führte Ute Scheub