Wenn die Heimat nicht mehr heimisch ist

■ Ein Berliner Jude kehrt nach Jahrzehnten zurück/ In Deutschland vertrieben — in Rußland als Spion verhaftet

Schöneberg. In der Westberliner Luitpoldstraße nahe dem Victoria- Luise-Platz steht gebückt ein alter Mann. Seine Brillengläser sind beschlagen, denn der Mann hat Tränen in den Augen. Er kann es kaum fassen: Nach 55 Jahren steht er wieder vor dem Haus, in dem er in den zwanziger Jahren aufgewachsen ist. Aber die ungetrübte Jugendzeit war kurz: Mit zwölf Jahren mußte er vor den Deutschen fliehen, kam in russische Gafangenenlager und lebte jahrzehntelang als Fremder in Lettland. »Jetzt, wo ich mein Vaterhaus wiedergefunden habe, kann ich sterben«, sagt er gerührt.

Die jahrelangen Verfolgungen und Schikanen haben ihre Spuren hinterlassen. Noch immer quält ihn die Angst vor dem russischen Geheimdienst. Um seinen Verwandten in der Sowjetunion keine Schwierigkeiten zu bereiten, will der 67jährige nur seinen Vornamen nennen und sich auch nicht fotografieren lassen.

Eugen stammt aus einer jüdischen Familie. Er besuchte in Berlin das Hohenzollerngymnasium. Bald nach dem Machtantritt Hitlers mußte er es verlassen, weil er Jude war. 1936 flüchtete er mit seinem Vater und seinen Brüdern aus Deutschland. Seine neue Heimat wurde Riga, die Hauptstadt Lettlands. Doch auch hier fand er vor den Nazis keine Ruhe. 1941 stand die deutsche Wehrmacht vor den Toren der Stadt. Eilends begab er sich abermals auf die Flucht und ging nach Rostow in Rußland.

Im Oktober 1941 meldete sich Eugen als Freiwilliger zur Roten Armee. Da in seinem Paß als Nationalität »deutsch« stand, wurde er von den sowjetischen Behörden verhaftet. Wegen angeblicher Spionage für die Deutschen und »konterrevolutionärer Tätigkeit« verurteilten sie den damals 17jährigen zu sechs Jahren Strafgefangenenlager in Sibirien. Ohne ordentliches Gerichtsurteil wurde die Strafgefangenenzeit mehrmals verlängert. Erst 1955 konnte Eugen nach Riga zurückkehren. 14 Jahre seines jungen Lebens waren verloren.

Und er hatte seinen Makel weg: Zu jeder Bewerbung mußte er seinen Lebenslauf abgeben, und kein Betrieb wollte einen »Konterrevolutionär« einstellen. So verdingte er sich auf mehreren Baustellen, bis er durch Beziehungen eine Ingenieursstelle in einer Fischfabrik erhielt. Dort arbeitete er 22 Jahre lang. Rehabilitiert wurde er jedoch erst 1990, rund fünf Jahrzehnte nach seiner Verhaftung. Bis dahin hatte er so manche Benachteiligung hinzunehmen. Und dazu gehörte auch die Weigerung der Behörden, ihm einen Auslandspaß auszustellen.

Nun endlich konnte er mit seiner Frau nach Deutschland ausreisen, nachdem er im Januar einen Paß erhalten hatte. Doch auch der neue Start war mit Schwierigkeiten verbunden. Eingereist war der alte Mann mit einem Besuchervisum, denn sein Sohn ist bereits seit September in Deutschland und wohnt seitdem im Aufnahmeheim in Ahrensfelde bei Berlin.

Seit dem 1. April ist in Berlin und Brandenburg das Kontingentflüchtlingsgesetz in Kraft. Demnach gelten sowjetische Juden zwar als politisch Verfolgte, müssen aber an der deutschen Botschaft in Moskau zunächst ein langwieriges Antragsverfahren über sich ergehen lassen, was ein Jahr und länger dauern kann. Ein Besuchervisum allein, wie es Eugen und seine Frau hatten, reichte jedenfalls nicht mehr aus, um für immer in Deutschland bleiben zu können. Und wäre es nur nach den Behörden gegangen, hätte ihm gedroht, daß er ein zweites Mal aus seiner Heimat vertrieben worden wäre.

Daß seine Odyssee nun doch ein Ende fand, verdankt er nicht zuletzt dem Zentralrat der Juden und der Ausländerbeauftragten für Brandenburg, Almuth Berger, denen es gelang, die bürokratischen Hürden zu überwinden. Ob es ihm allerdings auch gelingt, hier wieder heimisch zu werden, ist nicht mehr nur Sache der Behörden. Heiko Krebs (epd)