Der Triumph des Tangokönigs

„Der Tag, an dem du mich lieben wirst“ — Deutsche Erstaufführung in Kassel  ■ Von Martin Krumbholz

Ob er tatsächlich kommen wird? Ja. Wirklich und wahrhaftig, er kommt. Der legendäre Tangokönig Carlos Gardel, genannt Carlitos, genannt der Zauberer, genannt die kreolische Amsel. Kurz, er gibt sich die Ehre, nach seinem gloriosen Konzert in der venezuelanischen Hauptstadt Caracas die Villa der Familie Ancizar aufzusuchen. Und das, obwohl er gleichzeitig bei dem Diktator Gomez erwartet wird. Obwohl ein Takt der Drossel 12.000 Peseten wert ist (so ungefähr). Und der Mann hat Klasse. Auf leisen Sohlen kommt er herangetrippelt und zeigt Maria Luisa, einer der Töchter des Hauses, wie man eine Tischdecke auflegt. Das hat er in Holland bei der kleinen Wilhelmine gelernt. Welche Wilhelmine? Na bitte, die Königin! Und als ihn Maria Luisa, so unverhofft allein mit ihm, fragt, ob sie die beiden anderen Frauen herbeirufen solle, da antwortet er, man wolle doch die Intimität der beiden nicht stören...

Superb. Wie gesagt, der Mann hat Klasse. Er schenkt Maria Luisa erst einmal seinen weißen Schal. Ein Traum. Ein Märchen. Das Stück von José Ignacio Cabrujas spielt am 11.Juli 1935. Zu diesem Zeitpunkt ist der wirkliche Gardel — der aus Frankreich stammende legendäre argentinische Nationalheld — seit 17 Tagen tot. Bei einem Flugzeugabsturz tragisch verunglückt. Eine Serie von Selbstmorden war die Folge. Dieser göttliche Gardel, dem Enrico (Welcher Enrico? Na, Caruso, mein Kind!) geraten hatte, er solle zur Oper gehen. Er wollte aber der Tango-Poet bleiben, der die Massen — und namentlich die Massen der Frauen — entzückt.

Am Abend des 11.Juli 1935 — so erzählt es uns Cabrujas — ist der Mythos noch einmal Fleisch geworden. So eine Geschichte voller leidenschaftlicher Poesie ist nur postum realistisch. Mit Carlo Ghirardelli verfügen die Kasseler über einen Schauspieler, der diese messianische Aufgabe bravourös bewältigt. Fabelhaftes Aussehen, exzellente Manieren und jener zarte Schmelz in der Stimme, der die Frauen verrückt macht (sein Rasierewasser ist mir in der zehnten Reihe leider entgangen). Er ist bescheiden. Man hat nicht das Gefühl, daß er zu dick aufträgt, wenn er von seinen berühmten Bekanntschaften erzählt. Er kennt sie alle wirklich. Natürlich, welche Frage, auch den Schriftsteller Romain Rolland (er hat in Paris erst kürzlich mit ihm im Café gesessen). Derselbe Rolland, dem Pio, der Verlobte von Maria Luisa, geschrieben haben will, er möge ihnen doch einen Kontakt zu Stalin ermöglichen. Damit Maria und Pio in der Ukraine endlich ein sinnvolles proletarisches Leben führen können. Gardel nimmt dieses Projekt mit höflichem Respekt auf. Gardel und Stalin, Mythos und Gegenmythos, aus dieser grotesken Spannung bezieht Cabrujas' Farce ihren Witz. Noch heute kursiert in Argentinien das geflügelte Wort, Gardel singe „von Tag zu Tag besser“. Der Mythos also wächst mit zunehmendem Abstand ins Unermeßliche. Auch Utopien — besonders die sozialistische — sind um so schöner, je weiter man von ihnen entfernt ist. Das immerhin haben Gardel und Stalin gemeinsam. Zwischen Caracas und der Ukraine liegt eine halbe Weltumrundung. Angesichts des real aufscheinenden Mythos Gardels aber wird Pios realsozialistische Perspektive zu Asche.

Während die drei Frauen (und selbst ihr Bruder Placido) dem Star zu Füßen, auf dem Schoß oder sonstwo liegen und vor Lust und Wonne buchstäblich zerfließen, gesteht der arme Pio, daß er Romain Rolland nicht einmal geschrieben hat. Wenn der Mythos Fleisch wird und mitten unter uns kommt, blamieren sich alle anderen Illusionen zu Tode. Frank Hoffmann, Regisseur der Kasseler deutschsprachigen Erstaufführung — Bernd Holzapfel hat ihm eine luxuriöse Halle aus weißem Marmor gebaut, mit Durchblick auf die gegenüberliegende Straßenseite — beantwortet die zarte Ironie der Vorlage mit konsequenter Stilisierung. Die Ekstasen der Frauen zieht er in eine grelle Künstlichkeit hoch; zwischendurch sind präzis kalkulierte Zäsuren und Brüche gesetzt; nicht ohne eine Tendenz zur Überdeutlichkeit das alles, aber in sich schlüssig und von den sieben DarstellerInnen perfekt exekutiert. Der Tango an sich und als solcher wird überraschend zurückhaltend ausgereizt, aber es gibt ein eingängiges Leitmotiv (Musik: Hartmut Schmidt) — und am Schluß, ehe er sich im Nebel der Geschichte auflöst, singt er uns seinen schönsten Tango: Der Tag, an dem du mich lieben wirst... Oh, ist das gut.

José Ignacio Cabrujas: Der Tag, an dem du mich lieben wirst . Regie: Frank Hoffmann; Ausstattung: Bernd Holzapfel. Mit Eva-Maria Keller, Frank Büssing, Heidi de Vries, Susanne Häusler, Wolfram Mucha, Herwig Lucas und Carlo Ghirardelli. Staatstheater Kassel. Nächste Aufführungen am 7., 22., 25. und 30. Mai.