SPD übt wieder Kernspaltung

■ Die Sozialdemokraten steuern nicht ganz freiwillig auf eine neuerliche Atomenergiedebatte zu. Es sind die SPD-Fraktionsvorsitzenden aus Bund und Ländern, die versuchen, ihre Nürnberger Ausstiegsbeschlüsse...

SPD übt wieder Kernspaltung Die Sozialdemokraten steuern nicht ganz freiwillig auf eine neuerliche Atomenergiedebatte zu. Es sind die SPD-Fraktionsvorsitzenden aus Bund und Ländern, die versuchen, ihre Nürnberger Ausstiegsbeschlüsse zu retten.

Was der designierte SPD-Vorsitzende Björn Engholm und die Ministerpräsidenten der westdeutschen Kohleländer Nordrhein-Westfalen und Saarland, Johannes Rau und Oskar Lafontaine, über die künftige (Atom-)Energiepolitik ihrer Partei denken, weiß derzeit am besten Bundeswirtschaftsminister Möllemann (FDP). Der hat bekanntlich nach einem Antrittsbesuch führender Herren aus führenden Stromunternehmen in seinem Hause den „energiepolitischen Konsens der staatstragenden Parteien“ zu seinem Steckenpferd erkoren. Nach einer ersten Gesprächsrunde mit der SPD-Spitze erklärte Möllemann am Wochenende in Bonn: „Mein Eindruck ist, daß auch die Sozialdemokratische Partei den Versuch, einen energiepolitischen Konsens herzustellen, ernsthaft mitunternehmen will.“ Wenn des Bundesministers Eindruck nicht trügt, steuern die Sozialdemokraten auf eine neue energiepolitische Zerreißprobe zu.

Wie in den siebziger und der ersten Hälfte der achtziger Jahre entzündet sich der Streit an der Frage der Zukunft der Atomenergie. Die Stromwirtschaft und mit ihr der rührige FDP- Minister wollen die Sozialdemokraten dazu veranlassen, ihren Nürnberger Parteitagsbeschluß zum Ausstieg aus der Atomenergie von 1986 zu „modifizieren“. Damals hatte die SPD unter dem noch frischen Eindruck der Tschernobyl-Wolke ein Ende der nuklearen Stromerzeugung binnen zehn Jahren auf ihre Fahnen geschrieben. Die Stromwirtschaft und mit ihr die Bundesregierung verlangen nun „Investitionssicherheit“ für neue Atomkraftwerke — und meinen einen Genehmigungs-Persilschein auch für den Fall, daß die Meiler auf sozialdemokratisch oder rot-grün regiertem Boden errichtet werden. In Ostdeutschland sollen neue Atomkraftwerke die stillgelegten Sowjet-Meiler in Greifswald und realsozialistische Steinzeitkraftwerke auf Braunkohlebasis ersetzen, in Westdeutschland die Lücken schließen, die alternde Druck- und Siedewasserreaktoren der ersten Generation irgendwann in den neunziger Jahren reißen könnten.

„Zur Schonung der Rohstoffe, zur Rettung des Klimas“

Für ihr Ansinnen bieten Stromwirtschaft und Wirtschaftsminister den Sozis im Gegenzug Konzessionen bei der Förderung erneuerbarer Energieträger, der rationellen Energienutzung und vor allem bei den Steinkohlesubventionen in den sozialdemokratisch regierten Revieren an Ruhr und Saar. Der Jahrhundertvertrag, in dem die Stromversorger den Zechen bisher die Abnahme und Verstromung bestimmter Jahreskontingente der besonders teuren deutschen Steinkohle garantieren, läuft 1995 aus — ein bereits früher erfolgreich erprobtes Folterinstrument gegen atomunfreundliche, widerspenstige Sozialdemokraten wird wieder hervorgeholt.

Die konzertierte Aktion von Bundesregierung und Atomwirtschaft hat ihre Wirkung auf die Sozialdemokraten nicht verfehlt. Intern rumort es, alte, seit den Nürnberger Parteitagsbeschlüssen verschüttete Gräben zwischen AKW-Gegnern und Befürwortern innerhalb der Partei drohen wieder aufzureißen. Mit einer eindeutigen Entschließung versuchten die Fraktionsvorsitzenden aus Bund und Ländern am vergangenen Freitag in Potsdam prophylaktisch, Pflöcke gegen eine Aufweichung der geltenden Beschlußlage einzuschlagen. Textprobe: „Die Kernenergienutzung ist auf Dauer nicht zu verantworten. Entsprechend unseren Nürnberger Parteitagsbeschlüssen halten wir an dem Ziel des Ausstiegs aus der Atomkraft fest und lehnen deshalb auch jeden Ersatz bzw. Neubau von Atomkraftwerken in den alten und neuen Bundesländern ab.“

In dem dreiseitigen Papier verzichten der Bonner Fraktionschef Jochen Vogel und seine Länderkollegen zwar auf eine Wiederholung der Nürnberger Zehnjahresfrist bis zum Ausstieg, halten aber ansonsten den Kurs. Sie votieren gegen die Wiederaufarbeitung der abgebrannten Brennelemente (auch im Ausland) und für eine „direkte Endlagerung des Atommülls“. Die Einrichtung von Endlager-Standorten sei dabei „nur akzeptabel, wenn die zivile Nutzung der Atomkraft in einem überschaubaren Zeitraum beendet wird“. Damit wird der rot- grünen niedersächsischen Landesregierung der Rücken gestärkt, auf deren Territorium die umstrittenen Endlagerstandorte Gorleben und Schacht Konrad bei Salzgitter liegen.

Statt das „Energieangebot immer weiter auszuweiten“, wollen die SPD-Fraktionschefs den Energieverbrauch bis zum Jahr 2005 um mindestens 20 Prozent und den Kohlendioxid-Ausstoß um 30 Prozent reduzieren — „zur Schonung der Rohstoffe und zur Rettung des Klimas“. Energieeinsparung und rationelle Energienutzung — etwa durch Kraft- Wärmekopplung mit Nah- und Fernwärmenutzung — müsse künftig immer vor dem Bau neuer Kraftwerke kommen. Für ein umweltverträgliches Energiesystem wollen die SPD- Fraktionsvorsitzenden die Markteinführung erneuerbarer Energieträger (Wind, Sonne, Wasser) ebenso fördern wie Investitionen in rationelle Energieverwendung und -einsparung. Ein „integriertes Gesamtverkehrskonzept“ soll ebenfalls unter anderem durch Verkehrsvermeidung und -verlagerung zur Energieeinsparung beitragen.

Öffentliche Äußerungen der SPD-Spitze sind rar

Zum prekären Thema Kohlepolitik heißt es in dem Papier, auch sie müsse sich „in das Ziel einpassen, den Energieverbrauch absolut zu senken“. Im Klartext: Auch die SPD-Fraktionschefs sehen zur Senkung der Kohleförderung keine Alternative. Allerdings müsse statt einer absoluten Menge in Zukunft „ein fester Anteil heimischer Steinkohle an der gesamtdeutschen Stromversorgung festgeschrieben werden“. Die Braunkohle soll ebenfalls „bluten“ und ihren derzeitigen Anteil von 29 Prozent an der gesamtdeutschen Stromerzeugung entsprechend den in den kommenden Jahren erreichbaren Stromsparpotentialen „absenken“.

Daß weder die in dem Papier enthaltene Position zum Atom noch zur Kohle innerhalb der SPD Konsens ist, machte am Wochenende der Chef der Industriegewerkschaft Bergbau und Energie (IGBE), Hans Berger, klar. Bei „nüchterner Betrachtung“ müsse ein „energiepolitischer Konsens“ zwischen den großen Parteien möglich sein, vertraute Berger dem 'Handelsblatt‘ im Vorfeld des IGBE-Kongresses an, der heute in Dortmund beginnt. Dabei sei von dem bestehenden Energiemix inclusive Atomenergie auszugehen. Man müsse insbesondere beim Problem der Entsorgung viel Kraft darauf verwenden, „daß wir alle gemeinsam mit der vorhandenen Kernenergie noch sicherer als bisher weiterleben können“. Berger warnte auch vor schweren Einbrüchen bei der Steinkohle- und Braunkohleförderung. Die Braunkohle müsse auch künftig einen Anteil von „mindestens 30 Prozent“ an der gesamtdeutschen Stromproduktion halten, die Steinkohle 20 Prozent.

Was Möllemann in Bonn außer seinem oben zitierten „Eindruck“ von dem Defilee Engholm, Rau, Lafontaine, Vogel und Brandt in Sachen Energiekonsens tatsächlich zu hören bekam, weiß bisher niemand. Es wurde Vertraulichkeit vereinbart. Öffentliche Äußerungen der SPD- Spitze sind rar. Die neuentdeckte sozialliberale Zuneigung, kombiniert mit den „Kohleinteressen“ der SPD- Länder Nordrhein-Westfalen und Saarland könnte Bewegung in die Angelegenheit bringen. Vielleicht schon vor dem Parteitag Ende Mai in Bremen. Gerd Rosenkranz