„Ich kann Fakten nicht leiden“

■ Interview mit Irene Dische, Bremerhavener Literaturpreisträgerin

Schriftstellerkollege Christoph Hein sparte nicht mit Lob, als er am Sonntag in Bremerhaven die Laudatio auf Irene Dische, die erste Preisträgerin des Jeanette-Schocken-Preises, hielt. Die Autorin machte mit ihrem 1989 von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen Erzählband „Fromme Lügen“ schlagartig von sich reden.

Der mit 10.000 Mark dotierte „Bürgerpreis für Literatur“ wird aus Spenden aufgebracht und ist nach Jeanette Schocken, der Frau des 1934 gestorbenen Bremerhavener Kaufhausbesitzers Julius Schocken benannt, die im November 1941 mit anderen Juden und Jüdinnen nach Minsk deportiert wurde.

Die taz sprach mit der Schriftstellerin, die als Kind jüdischer Emigranten in New York geboren wurde und seit 1980 in Berlin lebt.

taz: Die Jury ehrt Sie wegen der Ironie und Zartheit Ihrer Geschichten. Erkennen Sie sich darin wieder?

Irene Dische: Ich denke, die Boshaftigkeit meiner Geschichten hat etwas mit Zartheit zu tun, so empfinde ich meine Gefühle beim Schreiben. Ich identifiziere mich mit fast jedem, der vorkommt. Wenn ich das nicht kann, wird die Geschichte schwach. Eine unangenehme Gestalt wie Carl Bauer (in „Fromme Lügen“) tut mir unendlich leid.

Bisher haben Sie nur in Englisch geschrieben...

Ich kann kein Deutsch schreiben.

In Ihrer Familie in New York haben Sie nicht Deutsch gesprochen?

Doch, erstmal nur. Englisch habe ich zum ersten Mal mit sechs gesprochen. In meinem Stadtviertel haben sie alle Deutsch gesprochen. Als ich in Deutschland angekommen bin, konnte ich Deutsch nicht vom Blatt lesen. Inzwischen geht es fließend.

Wie haben Sie Enzensberger kennengelernt?

Enzensberger war bei „Transatlantic“. Ich hatte eine Erzählung an „Transatlantic“ geschickt, aber die konnten keine Erzählungen gebrauchen. Eines Tages rief er mich an und hat mich ermuntert, für die Zeitung etwas anderes zu machen. Er hat mich nach München eingeladen und mich gefragt, ob ich für die Zeitschrift regelmäßig schreiben möchte. Ich habe gesagt, ich kann Fakten nicht leiden, ich möchte keine Reportagen schreiben. Da hat er freundlich gelächelt und gesagt: Das macht nichts. Damit fing es an. Der Kontakt ist nie abgebrochen. Vor zwei Jahren, als ich nirgend veröffentlichen konnte, habe ich ihm unter dem Druck seiner Frau und dem Druck meines Ehemannes Erzählungen zu lesen gegeben. Er hat sich sehr schnell entschlossen, sie zu veröffentlichen.

Ich möchte in Berlin keine Politiker sehen

Warum sind Sie aus New York weggegangen?

New York bietet Armut, Elend und Gewalt. Es ist ein Kriegsgebiet, ein Bürgerkrieg zwischen den Armen und den Reichen. New York ist zu gewalttätig, damit komme ich als Frau nicht zurecht. Ich möchte nicht ständig Menschen begegnen, von denen ich mich bedroht fühle.

Wie erleben Sie Berlin?

Ich war zuerst sehr verängstigt, als die Mauer fiel. Ich fand es schrecklich. Da waren plötzlich so viele Deutsche. Die Polen zum Beispiel waren vollkommen weg, richtig vertrieben, das hat mir gar nicht gefallen. Jetzt habe ich das Gefühl, daß Berlin eine Stadt wie New York in den 50iger Jahren wird, mit sehr vielen verschiedenen Völkern. Für Berlin habe ich Hoffnungen, besonders wenn die Stadt nicht Hauptstadt wird. Das ist ein ästhetisches Argument. Ich möchte in Berlin nicht gerne Politiker sehen. Fragen: Hans Happel