Das Haus an der Uferstraße

■ Jan Vogeler über die Moskauer Zeit seines Vaters, des Malers Heinrich Vogeler

1932, ein Jahr vor Beginn der Nazi-Diktatur fuhr der Worpsweder Maler Heinrich Vogeler Richtung Moskau — mit der Aufforderung an seine Freunde, sie sollten alle mitkommen, in Deutschland gingen sie furchtbaren Zeiten entgegen. Am Vorabend des vergangenen 1. Mai kam Jan Vogeler, Sohn des berühmten Heinrich und seiner zweiten Frau Sonja Marchlewska, auf Initiative des Arbeitskreises Kultur ins Worpsweder Rathaus, um über die Moskauer Zeit seines Vaters zu berichten.

Im gelobten Land wurde Heinrich Vogeler erst Mitarbeiter des Komitees für die Standardisierung des landwirtschaftlichen Bauwesens, dann des Laboratoriums für die „Biontisierung der Saat“, schließlich der Universität für die Studenten der westlichen Minderheiten. Was tat der Maler an all diesen Orten? Er betrieb die „künstlerische Propagierung“ der jeweiligen Aufgaben, will sagen, er verfertigte Bauanleitungen, gestaltete Flugblätter und Plakate, oder lehrte solches die Studenten: Ging es doch um nichts Geringeres als die Beförderung der Geburt des Neuen Menschen. Zum Aufgabenbereich gehörten Reisen in entlegene Orte: nach Karelien, bis ans nördliche Eismeer, nach Usbekistan, in den Kaukasus oder nach Aserbaidschan — nicht zu vergessen das sagenumwobene Samarkand.

Das Wiederauftauchen einer tagebuchartigen Skizzensammlung mit kleinen Tuschzeichnungen, die statt Ansichtskarten Grüße für den zurückgebliebenen Sohn tragen, gab den Anlaß für Jan Vogelers Besuch. Die Ausstellung ist jetzt (als ständige Sammlung) im Stader Museum zu sehen. Zugleich erschien ein schöner Katalog mit einem Vorwort des Sammlers Wolfgang Kaufmann.

Intensive Farben und ein eigenwilliger Aufbau kennzeichnen die kleinen Bilder. Die häufig exotische Thematik (z.B. Kamele vor einer Jurte) verleiht ihnen märchenhaften Reiz. In ihrer Unbefangenheit ist der Optimismus des Aufbruches bewahrt, unbeabsichtigt zeigen sie eine gewisse Verwandtschaft zu den frühen Arbeiten des Künstlers.

Die Reise-Möglichkeit stellte ein Privileg dar. Aber auf die Frage, warum nicht auch er, Jan, Künstler geworden sei, zögert der Angesprochene, von Beruf Philosoph und Sozialwissenschaftler an einem mit der KPdSU verbundenen Institut. Er sei nicht begabt gewesen — außerdem hätten die harten materiellen Lebensbedingungen des Künstlerdaseins in der damaligen Sowjetunion eher abgeschreckt.

Jan Vogeler erzählt nicht bloß von stalinistischen Irrtümern, sondern auch von der Schuld, die die Partei, der er noch immer angehört, auf sich geladen hat. Heute gehört er der Gruppe „Kommunisten für die Demokratie“ an und besteht darauf, daß sein Vater nie Kommunist im Sinne eines Parteifunktionärs gewesen sei. Uns allen empfiehlt er ein Buch von Juri Trifonow: „Das Haus an der Uferstraße“ — jenes Haus, in dem Jan aufwuchs und in dem die Kinder der Täter und Opfer des stalinistischen Terrors zusammenlebten. Er kommt darin nicht vor, „vielleicht, weil ich damals ein völlig überzeugter Komsomolze war“.

Kurz streift er die künstlerische Innovation der „Komplexbilder“, mit denen sich sein Vater — nach der Bekehrung zum Kommunismus — radikal von der eigenen Jugendstil-Vergangenheit distanzierte.

Über die Umstände des mehrfach „tragisch“ genannten Todes zu sprechen, fällt dem Sohn immer noch schwer. Mich hat sein Verweis auf die beschönigende Darstellung im Buch von Werner Hohmann überrascht: als sei das Ganze gewissermaßen eine Verkettung gut gemeinter und leider schlimm ausgegangener Schutzmaßnahmen gewesen. Jan Vogeler weiß es besser. Er brachte, als junger Armeeangehöriger, am 13. September 1941 den Vater noch selbst zum Bahnhof. Die Reise führte Heinrich Vogeler ins stalinistische Russland. Ab da verlieren sich beide für immer aus den Augen. Der deportierte Heinrich Vogeler starb, nach dem, was wir wissen, elend und verlassen an Hunger und Kälte in einem primitiven Krankenhaus im kasachischen Kolchos Budjonny — der Name läßt an ein anderes Opfer stalinistischer Politik, Isaak Babel, denken.

Besonders in einem hat Jan Vogeler den Ehrgeiz, es seinem Vater gleichzutun: Als Vermittler will er wirken, zwischen den Systemen, den Kulturen und — den einzelnen Menschen. Als überzeugendsten Beweis seines vermittelnden Temperamentes gibt er allen Anwesenden seine private Telefonnummer in Moskau preis — was er auch schon in Stade getan haben soll. Deshalb empfinde ich keine Skrupel, sie auserwählten taz-Leser/Innen zu verraten: Wer immer sich zu ähnlichem berufen fühlt, solle ihn anrufen, wenn er oder sie gerade mal in Moskau weilt, hat er gesagt. Wenn Sie mich anrufen, sage ich die Telefonnummer weiter. Konstanze Radziwill