Berlin — weiterhin in schlechter Verfassung?

■ Fraktionsvertreter diskutierten über geplante Verfassungsreform/ Verfassungsrechtler Seifert fordert Stärkung der Opposition

Berlin. Die Rechte der Opposition im Landesparlament zu stärken, hat der Hannoversche Verfassungsrechtler Professor Jürgen Seifert den Berlinern für ihre Verfassungsreform ans Herz gelegt. Auf einer Podiumsdiskussion der Humanistischen Union Berlin am Montag abend, an der VertreterInnen aller Fraktionen im Abgeordnetenhaus teilnahmen, eröffnete der renommierte Jurist eine Debatte über eine mögliche Reform der Berliner Verfassung. Berlin — in neuer Verfassung war der Titel der Veranstaltung, der nur etwa 50 Zuhörer ins Rathaus Schöneberg locken konnte. Die Koalitionspartner CDU und SPD haben sich eine solche Reform als Aufgabe für diese Legislaturperiode in ihren Koalitionsvertrag geschrieben, zeigen bis jetzt aber keine Eile.

»Die Chancen, daß die kleinen Parteien gehört werden, sind in einer großen Koalition nicht sonderlich günstig«, beschrieb Seifert in seinem Referat die Gefahr des jetzigen Regierungsbündnisses. Gerade deshalb hänge von einer Stärkung der Opposition mehr ab: In manchen Fällen sei auch eine Volksgesetzgebung neben der parlamentarischen sinnvoll, meint Seifert. Er sprach sich außerdem für die Schaffung eines Bürgerbeauftragten und für eine Erweiterung der Staatszielbestimmungen aus. Am Schluß sollte der Entwurf der Bevölkerung zur Abstimmung vorgelegt werden.

Trotz seines Eintretens für Veränderungen warnte Seifert vor Verfassungsillusionen: »Eine Verfassung kann nur ein Stück weit über die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse hinausgehen«.

In der anschließenden Diskussion zeigten sich die unterschiedlichen Auffassungen der Parteien, ohne daß man einer Einigung näher kam. Für das Publikum oft unverständlich, verbissen sich die Parlamentarier in Details der Geschäftsordnung des Abgeordnetenhauses. Der ehemalige SPD-Parlamentarier Erhard Körting, der im letzten Jahr maßgeblich an der Verfassungsdebatte beteiligt war, plädierte vehement für »einen behutsamen Umgang mit der Berliner Verfassung«. Die Westberliner Verfassung habe sich bestens bewährt und als Antwort auf die nationalsozialistische Diktatur viele der späteren Grundrechte vorweggenommen.

Entlarvend die Äußerungen des CDU-Vertreters Roland Gewalt: Eine Verfassungsdiskussion, so glaubt der CDU-Mann, könne derzeit nur über die Medien angestoßen werden. »Es ist Aufgabe der Rundfunkräte, in den öffentlich-rechtlichen Sendern dafür zu sorgen«, forderte Gewalt. Volksentscheide hält der CDU-Politiker wegen der unberechenbaren Uniformiertheit des Volkes für »gefährlich«, außerdem »bemäntele« sich eine Regierung damit demokratisch. Auch der Vertreter der FDP, Lange, warnte vor einer übereilten Verfassungsreform.

Auf entschiedenen Widerspruch stießen die Positionen der Altparteien bei AL, Neuem Forum, PDS und dem Publikum. AL-Fraktionschefin Künast, entschiedene »Verfassungspatriotin« forderte erneut eine verfassungsgebende Versammlung. Bereits im letzten Jahr hatten AL und Bürgerbewegungen eine solche Institution angeregt, waren damit jedoch auf wenig Gegenliebe bei SPD und CDU gestoßen. Tief enttäuscht vom Parlamentarismus zeigte sich Hans Schwenke vom Neuen Forum. Der Abgeordnete forderte eine verstärkte Kontrolle seitens der Öffentlichkeit, Abbau des Zentralismus im Stadtstaat Berlin und eine permanente Verfassungsdiskussion. Auch Schwenke mußte jedoch einräumen, daß es eine solche Debatte derzeit sehr schwer haben werde. Kordula Doerfler