Arrivierte Kunst und nachrückender Unmut

■ Die Oderberger Straße in Prenzlauer Berg/ Ungewöhnlich nicht nur für diesen Bezirk, alternativ schon vor der Wende

Eigentlich beginnt die Geschichte dieser Straße erst 1981, obwohl sie damals sicher schon 100 Jahre alt war. Da beschlossen einige Enthusiasten, sich eines Hinterhofs anzunehmen, in dem noch vor kurzem Ziegen meckerten und außer dem Schrott einer alten Klempnerei gelegentlich nur ein paar Liebespaare lagerten. Nach etlichen Gefechten mit der örtlichen Bürokratie wurde daraus der »Hirschhof« — ein so ziemlich einzigartiges Projekt in Berlin. Mit Wildwucher und Hinterhofromantik belebte der Hof das alternative Kulturgeschäft in Prenzlauer Berg.

Ungewöhnlich für die langgezogenen Häuserzeilen des Prenzlauer Berges ist die Oderberger Straße auch in baulicher Hinsicht: Errichtet zwischen 1860 und 1880, sind die Mietskasernen dennoch nicht die ersten Bauten dieses Ortes. Schon 1820 baute die Evangelische Kirche ein Heim für mittellose Landmädchen, die Gefahr liefen, im Dschungel der Großstadt ihre Ehre zu verlieren. Zwischen Oderberger und Schwedter Straße stand die Mission »Martha's Hof«, die in mehr als 100 Jahren an die 16.000 junge Dinger ins bürgerliche Leben schleuste.

Noch viel weniger als von diesem Asyl ist vom Tierpark geblieben. An der heutigen Ecke zur Choriner Straße kreischten bis zur Jahrhundertwende die Hyänen, dann war Schluß. Statt für Volksbelustigung sorgte man nun für Volkshygiene: Ludwig Hoffman erbaute hier sein Stadtbad, das mittlerweile der Kulturszene in die Finger geraten ist. 20 Pfennig hat hier noch vor wenigen Jahren eine Dusche und fünfzig ein Wannenbad gekostet. Jetzt ist der Wohlstand in die Straße eingefallen. Fleischermeister Dufft hat sich ein kleines Bluttempelchen bauen lassen, Zielke hat sich mit seinem zweiten Galerieversuch an der strategisch günstigsten Ecke (Kastanienallee) niedergelassen, der Drogist gegenüber hat sich für den Rest seines Lebens an L‘Oreal verpfändet, und im »Oderkahn«, einer Kneipe, die seit über 50 Jahren in Familienhand ist, gibt es nun auch Kartoffelsalat. Was der Oderkahn nicht hat, hat vielleicht das Café »Entweder Oder«, eine Konkurrenz der Bürgerbewegung, die sich hier ihr weltoffenes Vereinslokal geschaffen hat.

Dann wäre da noch die lustige PGH »Glühende Zukunft« mit ihrer Zentrale. Hier gibt's Plakate, Comics, Graphiken und Witze aus den Restbeständen aufmüpfigen DDR-Humors. Kinderkunst von Erwachsenen (und Kindern) bietet die »Spielunke«, der mittlerweile allerdings arg eingeschläferte erste alternative Kinderladen Ost- Berlins, vor dessen bunt bemalter Front gleich nach Eröffnung ein Bauarbeiter und eine liebe, alte Omi standen und nachdenklich mit dem Kopf nickten: »Det hama nu dafon.« Genau.

Und wat wa noch dafon ham, war bis vor kurzem im Glaskasten an der Ecke zur Kastanienallee ausgehängt, dem Sprachrohr des Widerstandes vom Mai 1989, als hier die Wahlveranstaltung der Nationalen Front recht gründlich ausgepfiffen wurde. Später tobten sich dann im Kasten Autofeinde aus, die forderten: Mauer hoch! — damit die Autos nicht durchkönnen. Ihre Taten waren nicht umsonst, denn die Oderberger soll verkehrsberuhigt werden. 200.000 Mark hat der Senat zur Beruhigung spendiert.

Noch hat die Oderberger ihren »Konsum«. Noch wohnt hier das alte Gemisch aus arrivierter Kunst und nachrückendem Unmut. Die Straße hatte schon immer eine Sonderstellung im alternativen Leben des Bezirkes. Nicht so düster wie die Lychener, nicht so zerstört wie die Duncker und keine Vorzeigestraße wie die Husemann. 1988 beschloß der Magistrat der Stadt Berlin, die Hinterhöfe dieser Straße mittelfristig zu entkernen, um hier das passabel funktionierende Mikroklima zu pasteurisieren. Irgendwie muß ihm was dazwischengekommen sein. Handloik

Fortsetzung am 15. 5. 91 mit der Kantstraße. Das für heute geplante Porträt über die Rosenthaler Straße erscheint am Mittwoch, den 19. Juni.