Ein Schuldiger muß her

■ Ein mißlungener Ausbruchsversuch/ Das „Phantom von der Anstaltskirche“ kriegt den Schwarzen Peter

Erst der Brief eines Gefangenen an die örtliche Presse brachte jenen Vorfall an die Öffentlichkeit, der sich bereits Ende März ereignet hatte: der gescheiterte Ausbruchsversuch aus der Diezer Justizvollzugsanstalt, dem größten und zugleich sichersten Gefängnis in Rheinland-Pfalz.

Während einer Sportveranstaltung war es einem Gefangenen gelungen, sich an einem modernen Wachturm vorbei unbemerkt in einen Teil des Anstaltsgeländes zu entfernen, der mit Bewegungsdetektoren und Kameras mit Videoaufzeichnung überwacht wird. Von dort warf er eine selbstgebastelte Strickleiter über die sechs Meter hohe Anstaltsmauer. Sein Vorhaben scheiterte jedoch an dem Nato-Stacheldraht oberhalb der Mauer. Weil er ihn nicht überwinden konnte, gab er seinen Plan auf.

Auch diesmal gelang es ihm, unentdeckt den Rückweg anzutreten. Der Wachtposten mußte blind sein. Erst am nächsten Morgen wurde der gescheiterte Ausbruchsversuch entdeckt. Auf einem Routinerundgang fand ein Sicherheitsbeamter die Strickleiter an der Mauer baumelnd. Sofort löste er Alarm aus. Ein Zählappell erfolgte, um die Vollzähligkeit der Gefangenen festzustellen. Keiner fehlte. Weitergefahndet wurde trotzdem.

Aufgeregt gingen Bedienstete von Zelle zu Zelle und klopften mit einem Hammer die Gitterstäbe ab. An ihrem metallischen Klang läßt sich feststellen, ob daran gesägt wurde. Für die Gefangenen fiel an diesem Vormittag die Arbeit aus „organisatorischen Gründen“ aus.

Erst die Videoaufzeichnung vom Vortag brachte Klarheit in das eigentliche Geschehen. Die Kamera hatte den ganzen Vorgang festgehalten. Da jedoch die Technik der Kamera nur großflächige Aufnahmen zuläßt, konnte die Identität des Gefangenen nicht festgestellt werden. Die Kriminalpolizei ermittelte erst gar nicht. Schließlich ist ein gewaltloser Ausbruch aus einem Gefängnis nicht strafbar.

Die Suche nach dem Ausbrecher ging trotzdem weiter. Aus Gründen der Anstaltsraison ist eine Reaktion unerläßlich. Die erfolgte auch noch am selben Tage. Der Anstaltsleiter Dieter Bandell holte zum Rundumschlag aus und verbot jegliche Sportaktivitäten. Nicht ohne zu erwähnen, bei dem Verbot handele es sich um „eine reine Sicherheitsmaßnahme und um keine Kollektivstrafe“. Dies erregte die Gemüter der Gefangenen, denn für sie ist der Sport wichtig. Hilfesuchend wandten sie sich an engagierte Bürger in der Umgebung. Leserbriefe erschienen in den örtlichen Zeitungen, die die Vorgehensweise des Anstaltsleiters kritisierten. Für die Gefangenen war klar, was das Sportverbot bezwecken sollte: ein günstigeres Klima für die Denunziation des ausbruchswilligen Gefangenen durch etwaige Mitwisser schaffen. Oder für diejenigen, die zufällige Augenzeugen wurden und bislang schwiegen. Die Gerüchteküche begann zu brodeln. Verdächtigungen trugen zur Verunsicherung der Gefangenen bei. Verraten wurde jedoch niemand.

Als zwei Wochen später das Ministerium die Anstalt besuchte, konnte der Anstaltsleiter kein Ergebnis vorweisen. Gegenüber der Presse sah er es jetzt als seine dringlichste Aufgabe an, „alles zu verhindern“, damit ein solcher Vorgang sich nicht wiederholt!“

Einen Tag später präsentierte er den „Schuldigen“. Der Gefangene Dieter F. (Name geändert) wurde aus seiner Zelle abgeführt und in einem gesonderten Raum untergebracht. Seine Zelle durchsucht. Hinweise auf den Ausbruch wurden nicht gefunden.

Wegen einer „gewissen Ähnichkeit“ mit der Person auf der Videoaufzeichnung verdächtigte man ihn, unterzog ihn sein Abteilungsleiter einem Verhör. Die schemenhafte Person auf dem Video war deutlich kleiner als er, das stellten auch Bedienstete fest, und hatte einen watschelnden Gang. Dieser da auf dem Videoband konnte er nicht sein.

Aber er hätte es sein können. Theoretisch zumindest. Denn Dieter F. ist aufgrund seiner lebenslangen Strafe einer aus der Kategorie derjenigen, „die nichts mehr zu erwarten haben“. Die nie wieder rauskommen sollen. So tuscheln Gefangene und Bedienstete hinter vorgehaltener Hand. Oder schikanieren ihn dafür offen.

Zudem ist sein Verhalten auffälliger als das der meisten Gefangenen. Er zeigt mehr Profil. Verschwindet nicht unsichtbar in der Uniformität des Gefängnisalltags. Spricht offen aus, was er denkt. Man muß ihn kennen, um ihn verstehen zu können.

Diesen Mann verdächtigt der Anstaltsleiter Dieter Bandell des versuchten Ausbruchs und unterwirft ihn einer Sonderbehandlung, isoliert von den Mitgefangenen. Er braucht einen Schuldigen und glaubt ihn in Dieter F. gefunden zu haben. Einen, der eh nichts zu verlieren hat. In der Wahl seiner Mittel ist Dieter Bandell rücksichtslos, wenn es um die Durchsetzung seiner Anstaltsmacht geht. In der Vergangenheit hat er das oft genug bewiesen. Im letzten Jahr war er in die öffentliche Kritik geraten, als er dem katholischen Anstaltsseelsorger Janssen kündigte, weil dieser sich konsequent für die Belange der Gefangenen einsetzte.

Was bedeuten ihm dann erst die Rechte der Gefangenen. Sein Umgang mit ihnen ist autoritär. „Erst gehorchen und dann beschweren!“ ist seine Maxime.

Dieter F. beteuerte seine Unschuld zu dem Vorwurf. An dem besagten Tag war er nicht einmal im Sportgelände. Eine Verletzung am Fuß hinderte ihn daran. Diese Tatsache konnten Mitgefangene bestätigen. Sie setzten sich sofort für ihn ein, als sie von der Anschuldigung erfuhren. Intervenierten für ihn. Trotzdem wurden die inzwischen verhängten Sicherheitsmaßnahmen nicht sofort aufgehoben. Erst zwei Tage später war er wieder im „Normalvollzug“.

Seine Arbeit hat Dieter F. wegen des Vorfalls jedoch verloren. Voll rehabilitiert wurde er nicht. Dabei hatte er gerade in den letzten Jahren regelmäßig gearbeitet, war für die Pflege der Anstaltskirche zuständig. Dort verbrachte er die meiste Zeit des Tages mit Reinemachen und der liebevollen Pflege der Pflanzen. Er machte die Anstaltskirche zu einer Pflanzenoase inmitten der gewächslosen Gefängniswelt. Er ging in seiner Beschäftigung auf, es machte ihm Spaß und Mitgefangene nannten ihn schon scherzhaft „das Phantom der Anstaltskirche“. Dieses „Phantom“ hat bereits über 20 Lebensjahre im Knast verbracht.

Aufgrund des Vorfalls hat man ihn nun von der Arbeit abgelöst. „Durch eigenes Verschulden“, damit er keinen Anspruch auf ein Taschengeld hat. Dabei ist er unschuldig, hat mit dem versuchten Ausbruch nichts zu tun. Und obwohl ein Ausbruch aus dem Gefängnis doch überhaupt nicht strafbar ist.

Was bleibt, ist ein bitterer Nachgeschmack von Justizwillkür und die Frage, wen es als nächsten trifft. Klaus Heß, JVA Diez