ESSAY
: Abschied von der Gemütlichkeit

■ Die polnische Intelligenz angesichts der Demokratie

Die außergewöhnliche Rolle der Intellektuellen im Umbruchprozeß Osteuropas hat den Westen fasziniert. „Wie 1848 könnte man auch 1989 eine ,Revolution der Intellektuellen‘ nennen“, schrieb der britische Publizist Timothy Garton Ash emphatisch. In Polen gehört der Glaube an die besondere Rolle der Intelligenz und deren Selbstverständnis, sich als letzte moralische Instanz zu sehen, zu den seit der Romantik gerne akzeptierten Mythen.

Polen als Idee

Über fünf oder sechs Generationen hinweg war Polen eine Idee, die Erinnerung an eine Vergangenheit, eine Projektion in die Zukunft, eine Illusion in der Gegenwart. Ihr Verständnis von Nationalität haben sich die Polen (und besonders die polnische Intelligenz) durch den aktiven Widerstand gegen die Regierungen der jeweiligen Staaten angeeignet, deren Bürger sie waren. Patriot zu sein, bedeutete, zu den Dissidenten zu zählen. Eine guter Staatsbürger hingegen war zugleich ein Kollaborateur. In der Geschichte des polnischen Widerstands spielte die katholische Kirche eine herausragende, aber doppeldeutige Rolle. Einerseits stellte sie die unabdingbare Kraft dar, durch die Polen der Germanisierung, Russifizierung und später dem Kommunismus zu widerstehen vermochte. Andererseits war dies gerade deshalb möglich, weil die Kirche verknöchert, rückständig und von keinerlei Selbstzweifeln geplagt war. Leszek Kolakowski hat dies sehr schön in dem Diktum zusammengefaßt: „Wie haben als Nation dank der Rückständigkeit unseres Christentums überlebt.“

Die polnische Kirche und die Intellektuellen

Die Verkalkung der polnischen Kirche führte am Vorabend des Zweiten Weltkriegs zum Bruch zwischen ihr und der polnischen Intelligenz. Erst Mitte der 70er Jahre näherten sich die linken Intellektuellen wieder der Kirche. Obwohl sie rational, antiautoritär und reformorientiert waren, vermochten sie doch den Wert der Kirche als damals einziger legalen unabhängigen Organisation zu erkennen. Das hat sich heute geändert, und die Gefahren, die im unveränderten Beibehalten dieser Position liegen, sind nicht zu übersehen. Immer häufiger hört man, die Polen könnten einander nur noch in der Kirche begegnen. Universale demokratische Forderungen verwandeln sich unterderhand in partikulare Rechte für die Kirche. Wenn man bedenkt, wie viele prominente Intellektuelle im Parlament dem Abtreibungsgesetz zugestimmt haben, kann man wohl am zivilen Mut und an der Unabhängigkeit der polnischen Intellektuellen zweifeln. Die Kirche scheint in Polen heute jeglicher Debatte enthoben, und es ist die Frage, ob das stereotype westliche Vorurteil, nur als Pole und Katholik könne man sich in Polen heimisch fühlen, heute nicht wahrer ist als je zuvor.

Als in Frankreich oder in England längst eine gefestigte Bourgeoisie vorherrschte, besaß Polen nur eine verschwindend kleine Bürgerschicht. Aber die Städte beherbergten eine andere bedeutsame Gruppe: die Intelligenz, die sich in Polen vor allem aus dem verarmten Adel rekrutierte. Im 18. Jahrhundert umfaßte der immerhin 10 Prozent der Bevölkerung und war damit der größte in ganz Europa. Er unterlag in der Folge einem gesellschaftlichen Abstieg. Aber nicht nur ökonomische Zwänge trieben ihn in die Städte, sondern auch die politisch motivierten Enteignungen, mit denen vor allem im russischen Teilungsgebiet die Familien des Landadels für ihre Teilnahme an Aufständen bestraft wurden.

Das Weiterwirken des Adelsethos

In Restbeständen reicht die Erinnerung daran bis heute. Das Adelsethos mit Werten wie: Ehre, Uneigennützigkeit, Opferbereitschaft (wenn Arbeit, dann im Namen der patriotischen Pflicht), Mut (aber nicht Zivilcourage), Freiheit (als Teilnahme an der kollektiven Souveränität, aber nicht als individuelle Freiheit) wurde von der Intelligenz übernommen.

Weitervermittelt wurde auch der Führungsanspruch der adligen Elite an die Bildungselite, die teilweise aus dem Adel stammte und deren Einflußnahme auf die Gesellschaft eher eine Ersatzfunktion für mangelnde politische Kraft war. Das „adlige“ Ethos kann man in der Solidarność recht gut wiedererkennen. Dazu gehört der magische Glaube an die Kraft der unmittelbaren Demokratie, die Überzeugung, politische Entscheidungen müßten einstimmig getroffen werden, die Vorstellung von der Nation als gigantischen Familie und einer nicht nur politischen, sondern auch moralischen Gemeinschaft. Der Kampf gegen die — fremde — Autorität ging einher mit Kollektivismus.

Der Terror der Tugend

Die Idee der nationalen Identität und Souveränität Polens konnte dank der Intelligenz überleben. Ohne sie ist schwerlich vorstellbar, daß wir als kulturelle Gemeinschaft hätten überleben können. Aber ihr Kollektivismus beschädigte das geistige Leben. So ist beispielsweise die metaphysische Einsamkeit des einzelnen bis heute ein rares Phänomen in der polnischer Literatur. Noch immer gilt das „nackte“, sich behauptende Individuum von Gombrowicz als eine Provokation.

Wie der Soziologe Pawel Spiewak bemerkt, ist für unsere geistige Tradition eine Art „kollektivistischer Individualismus“ bezeichnend. Unterschiede sind nur akzeptabel im Rahmen der gemeinsamen Sache, eben dem Kampf gegen das Regime. So erzeugt der „Terror des Systems“ einen „Terror der Tugend“ im Kampf für die gemeinsame Sache. In der apolitischen Überpolitisierung des Ganzen blieb nichts in seiner Eigentlichkeit bewahrt. In Polen wird das Klischee weithin gepflegt, nach dem man sich im Gegensatz zur „sowjetischen Barbarei“ als das Symbol des Okzidents sieht, der für Zivilisation und Menschheit steht. Für dieses Absolute muß man letztlich auch zum Äußersten bereit sein. Allein der Tod befriedigt die heroische Mentalität, nicht das Leben. Eine der schlimmsten Folgen des Kriegszustandes (von '81) war nicht so sehr die Polizeiverwaltung der Kultur als vielmehr die Obsession der moralischen Pflicht für die Schreibenden. In der Literatur, die nach dem Dezember 1981 entstand, wurde der Kriegszustand mit dem Krieg gleichgesetzt. Wieder waren wir unglückliche Helden von geradezu übermenschlicher Tugend, und wieder war es so, als sei das unablässige Lamento über den Untergang der Ehre die einzige Antwort auf diese Situation.

Die Probleme der polnischen Gegenwart

Für die polnische Gegenwart und Zukunft bleibt zu hoffen, daß sich die polnischen Intellektuellen aus dieser Selbstheroisierung und der Identifikation mit der polnischen Sache befreien. In einer modernen und vielgliedrigen Gesellschaft ohne Zentrum hören die Intellektuellen auf, Propheten, Priester oder Schamanen zu sein. Sie sind nicht mehr die Pädagogen der Gesellschaft und erfüllen auch keine historische Mission mehr. Es gilt, Abschied zu nehmen von der heimeligen Idee des Volkes. Die Dynamik der Moderne untergräbt jegliche traditionelle Substanz, auch wenn das vielleicht schade ist. Aber es kann nicht anders sein, wenn wir eine moderne Gesellschaft, auch mit all ihren Nachteilen, werden wollen und dabei nicht vergessen, daß aus dem Westen viel mehr kommt als nur die „Techniken“. Die Politik, und das scheint man in Polen vergessen zu haben, gehört nicht zu den eigentlichen Aufgabengebieten der Intelligenz. Das heißt noch lange nicht, daß sie sich auf die Rolle eines Experten oder eines moralisch unverbindlichen Ästheten beschränken müssen. Sie könnten die historische Mission, die sie glaubten, erfüllen zu müssen, zurückschrauben auf die persönliche Verantwortung eines in der Öffentlichkeit engagierten einzelnen. So würden sie durch ihr Handeln und ihre Praxis beitragen zur Rekonstruktion eines vielgliedrigen öffentlichen Lebens. Ewa Kobylinska

Die Autorin ist Philosophin und lebt in Poznań und Frankfurt/Main.