Strafexpedition gegen die Treulosen

Zwischen den Republiken Armenien und Aserbaidschan herrscht offener Krieg/ Moskau ergreift die Partei Aserbaidschans/ Armenien verlangt die Entsendung von UNO-Beobachtern  ■ Aus Moskau K.-H. Donath

Der seit drei Jahren schwelende Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan um die auf aserbaidschanischem Territorium gelegene Enklave Nagorny-Karabach, die mehrheitlich von Armeniern bewohnt wird, ist seit drei Wochen in eine neue heiße Phase getreten. Unter dem Vorwand, militante paramilitärische armenische Einheiten zu entwaffnen, drangen in den letzten Tagen aserbaidschanische Truppen mit der Unterstützung der 4. im Kaukasus stationierten Sowjetarmee auch auf armenisches Gebiet vor. Bisher konzentrierten sich die militärischen Auseinandersetzungen auf die unmittelbare Umgebung Karabachs. Nach Angaben armenischer Quellen soll die 4. Armee am Montag die Ortschaft Woskepar in der Region Noemberjan angegriffen und vom Erdboden getilgt haben. In einer Erklärung des Vorsitzenden des Obersten Sowjet Armeniens, Lewon Ter-Petrossjan, heißt es: „Die UdSSR hat Armenien den Krieg erklärt. Die sowjetische Armee fährt mit ihren Strafexpeditionen gegen Armenien fort.“ Bei dem Angriff auf Woskepar sollen 23 Menschen gestorben sein. Jetzt sollen die sowjetischen Sondereinheiten auch damit begonnen haben, die armenische Bevölkerung aus den umkämpften Gebieten zu evakuieren. Noch am Wochenende hatte Ter-Petrossjan nach einem Gespräch mit dem sowjetischen KGB- Chef Krjutschkow berichtet, der habe ihm im Namen Gorbatschows versichert, die armenische Bevölkerung werde nicht deportiert.

Der Oberste Sowjet Armeniens appellierte indes an die Vereinten Nationen, Sonderbeobachter in die Republik zu entsenden. Gleichzeitig forderte das Parlament eine außerordentliche Sitzung des Volksdeputiertenkongresses der UdSSR. Die aserbaidschanische Seite wies dieses Anliegen als Einmischung zurück und verlangte die Einhaltung der sowjetischen Verfassung. Unions-Innenminister Boris Pugo bediente sich vor dem Obersten Sowjet einer Wortwahl, die sich kaum von den Verlautbarungen des aserbaidschanischen Präsidenten Aijas Mutalibow unterschied. Die ausradierten Dörfer waren in seiner Terminologie „Stützpunkte ungesetzlicher bewaffneter armenischer Banden“.

Aserbaidschan ist die einzige Kaukasusrepublik, die im Verband der Sowjetunion bleiben möchte. Ende April setzte Präsident Mutalibow seine Unterschrift unter das „Neun-plus-eins-Abkommen“, das Präsident Gorbatschow mit den beitrittswilligen Republiken schloß. Zuvor soll Gorbatschow Mutalibow zugesichert haben, ihm beim Kampf gegen armenische Nationalisten zu unterstützen. Die eindeutige Haltung Moskaus in diesem Konflikt steht in Einklang mit dem „vertraulichen Abkommen“, wonach unionsunwillige Republiken wie „fremde Staaten“ behandelt werden sollen. Die Rufe Armeniens nach Schlichtung hat Moskau überhört. Indes spielt Gorbatschow sein bekanntes Doppel. Petrossjan hatte er am Wochende Hilfe zugesagt. Nur kam sie in Gestalt der 4. Armee. Zuvor soll der Kommandeur der Truppen des Innenministeriums, Generaloberst Schatalin, dem ständigen Vertreter Armeniens in Moskau, Mamikojan, beschieden haben: „Meine Offiziere drohen, ganz Armenien dem Erdboden gleichzumachen. Bedenken Sie, mein Finger ist am Knopf des Atomkraftwerkes. Sie wissen doch, daß ich den Knopf kontrolliere?“ Inzwischen sind Fallschirmjägereinheiten in Eriwan gelandet und haben die Nuklearanlage besetzt.