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Eine große Neugier auf die Menschen

■ Nicht mal die deprimierendsten Erlebnisse konnten Pinkus' gelassen-positive Weltsicht erschüttern

Zuletzt habe ich Theo Pinkus vor zehn Tagen gesprochen. Wir hatten uns per Zufall auf der Leipziger Buchmesse gesehen, und praktisch und ökonomisch wie er war, sicherte er sich eine Mitfahrgelegenheit in meinem Auto zurück nach Berlin, wohin es ihn seit einer Reihe von Jahren immer wieder in regelmäßigen Abständen zog. Zwei Stunden Autofahrt, zwei Stunden intensiven Gesprächs: Er erzählte, ich fuhr und hörte zu. Es gab bei ihm nicht das leiseste Zeichen von Ermüdung. Seine sanfte Stimme überspielte souverän das unkultivierte Motorgeräusch meines betagten Käfers.

Faszinierend war, wie er auch dem eigentlich Fremden gegenüber — wir hatten uns bis dahin vielleicht vier-, fünfmal gesehen — den Ton vertrauter Nähe fand, der ihn im Umgang mit den Menschen so auszeichnete. Ihn beschäftigten seine Begegnungen in der dahingeschwundenen DDR, mit der ihn über Jahrzehnte mancherlei Persönliches, und, wohl auch mit abnehmender Tendenz, Politisches verbunden hatte. Der Umgang mit den Menschen dort schmerzte Theo Pinkus, wie ihn, den Bücherfreund, der Umgang mit der Literatur schmerzte, die man, pünktlich zum Start der Buchmesse, einige Kilometer südlich von Leipzig zum Verrotten auf den Müll geworfen hatte. „Hast du hier nicht vielleicht ein Haus, wo man solche Bestände lagern könnte? Eines Tages wird das alles sehr gefragt sein.“ Nein, ich hatte kein Haus und auch keine Antwort auf die Frage, wie man solchem Vandalismus Einhalt gebieten könnte.

Und doch, auch diese deprimierenden Erlebnisse konnten ihn nicht wirklich erschüttern, in der gelassen-positiven Weltsicht, die ihm eigen war, und die sicherlich ein Grund mit dafür war, daß dieser Greis so umwerfend jugendlich erschien, obwohl er nie auf die Idee gekommen wäre, sich jünger zu machen, als er wirklich war. Im Gegenteil, er nutzte sein hohes Alter wie ein umsichtiger Kaufmann sein Kapital — ein Erfahrungsschatz, aus dem er einer wißbegierigen, lernbereiten oder jedenfalls erfahrungshungrigen Nachwelt abgab. So sollte es auch Mitte Mai in Berlin wieder geschehen. Er wollte auf dem Symposium sprechen, das die Akademie der Künste Ost zum 100. Geburtstag von John Heartfield veranstalten wird. Auch mit ihm, wie mit so vielen unvergeßlichen Genossen der Weimarer Zeit, hat Theo Pinkus persönliche Bekanntschaft, ja Freundschaft verbunden.

Nach zwei Stunden Fahrt stieg er aus dem Auto, die zierliche Gestalt, behängt mit Rucksack und Tragetaschen, wunderbar mit seinem schlohweißen Schopf, mit seinen riesengroßen, unwiderstehlichen Augen, durch die er fast wie ein Magier sein Gegenüber an sich heften konnte. Er habe eine große Neugier auf die Menschen, so hatte er mir erzählt auf der Fahrt. Und dann beschrieb er mir, wie er das Verhältnis von Menschen zueinander bildlich zu fassen versuchte. Der andere Mensch, sagte Theo Pinkus, komme ihm vor wie in ein Kleid aus ganz vielen spiegelnden Pailletten gehüllt. So sehe man im anderen immer wieder sich selbst und immer wieder anders, Spiegel für Spiegel. So bleibe es immer aufregend und neu. Klaus Schultz

(Dankend übernommen von

Journal in 3 , SFB 3, vom 6.5. 91)

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