INTERVIEW
: „Man wird nicht wieder Tausende finden, die ihr Leben geben“

■ Eva Quistorp, Europa-Abgeordnete der Grünen, reiste zum 5. Jahrestag der Reaktorkatastrophe nach Tschernobyl. Sie fuhr durch die belastetete Zone bis zum Sarkophag.

taz: Warum bist Du in die Ukraine gefahren?

Eva Quistorp: Unser Besuch sollte eine politische Geste der Solidarität mit den Strahlenopfern sein. Außerdem wollte ich mich der Angst, die ich damals mit vielen anderen in der Bundesrepublik erlebt habe, noch einmal aussetzen, aber zusammen mit den Leuten, die noch immer in der Nähe des Reaktors leben müssen.

Aber Du bist sicher auch hingefahren, um Hilfe anzubieten?

Wo ich Möglichkeiten des Handelns sehe, zu fragen: Was macht die Bundesregierung? Was macht die EG? Von der angelaufenen EG-Hilfe für medizinische Geräte und wissenschaftliche Zusammenarbeit wußte beispielsweise im radiologischen Zentrum Kiew und in den Krankenhäusern rund um Tschernobyl niemand etwas. Wir müssen also nachhaken, wo diese Hilfe bleibt, wer sie verteilt und mit welchen Organisationen zusammengearbeitet wird. Bei der wissenschaftlichen Zusammenarbeit befürchte ich jedoch, daß die Gelder direkt in die Atomforschung fließen und nicht den Opfern zugute kommen. Der deutsche Konsul in Kiew erzählte mir, daß ein Dekontaminierungszug sowie Strahlenmeßgeräte nach Kiew geliefert werden sollten. Daß dies noch nicht passiert sei, läge an dem ewigen Streit mit der Moskauer Bürokratie. Das stimmt nach meiner Meinung nur zur Hälfte, denn natürlich hätten die Bundesrepublik und die EG mit ihrem ökonomischen und politischen Gewicht Möglichkeiten zu sagen, wir liefern nur an unabhängige Bürgerbewegungen.

Seid Ihr auch in der belasteten Zone gewesen?

Wir sind am 24. April mit einem Bus in die sogenannte Zone gefahren. Ich sah eine wunderschöne Landschaft mit Birken, herrlichen alten Bauernhäusern, die fast alle leerstanden. Dieser Eindruck war erschütternder als das, was ich bisher auf Fotos oder in Filmen gesehen habe. Einer der größten Kontraste, der mir bisher auch nicht so klar war: Die riesige AKW-Industriewüste steht inmitten einer Landschaft mit ärmlicher Landwirtschaft, denn das wird vor der Katastrophe auch schon so gewesen sein. Ich habe in der 30-Kilometer-Zone Frauen gesehen, die wieder zurückgekehrt sind und mit dem Pferdefuhrwerk das Land bewirtschaften. Das Wasser holen sie aus einem Brunnen. Es ist ein Wahnsinn, daß die sowjetische Gesellschaft versuchte, ins Atomzeitalter vorzupreschen, und dabei alles andere auf der Strecke blieb.

Du hast Dich auch in dem verstrahlten Reaktorgebäude aufgehalten...

Ja, dort habe ich mit Arbeitern gesprochen. Darunter einer, der am Unglückstag im Kontrollbereich arbeitete. Er ist im Bundeswehrkrankenhaus Koblenz behandelt worden und hat sich unheimlich gefreut, mich zu treffen. Man muß dennoch sehr aufpassen, daß man nicht in den Mythos verfällt, durch den Westen wird alles besser. Wir sind nicht die Wundergötter, die alles retten und heilen.

Konntest Du Familien von Liquidatoren besuchen?

Wir waren in Tscharbak, 400 Kilometer von Tschernobyl. Dorthin sind etwa 100.000 Leute umgesiedelt worden, davon 68.000 Liquidatoren. In einem speziellen Krankenhaus werden 1.200 von ihnen behandelt. Einige sind schon gestorben. Die meisten Menschen haben vor dem Unglück in Bauernhäusern mit eigenen Gärten gelebt, soweit sie nicht in Pripjat, der AKW-Stadt wohnten. Jetzt müssen sich sieben bis acht Leute ein Zimmer teilen.

Wir haben mit Familien gesprochen, waren in dem Liquidatoren-Krankenhaus und haben eines der Dörfer in der Nähe der 30-Kilometer-Zone besucht, das hätte längst evakuiert werden müssen. Es gibt mehrere Probleme gleichzeitig. Die Leute in Belorußland und in der Ukraine sind oft gezwungen, die Reaktorkatastrophe zu verdrängen, weil ihnen noch andere Probleme unter den Nägeln brennen: Wohnungsmangel, Lebensmittelversorgung, ökonomische Krise.

Aber die sind doch durch das Reaktorunglück entstanden?

Auf jeden Fall sind die Probleme ungeheuer verschärft. Außerdem ist der Informationsstand über die Strahlenbelastung und die Bedeutung der Radioaktivität bei der Bevölkerung insgesamt nach wie vor sehr schlecht. Wir haben in einer Schule erlebt, die wohl noch stark unter kommunistischem Einfluß steht, daß die Lehrer und Schüler überhaupt kein Interesse hatten, uns Auskunft darüber zu geben.

Werden Krankheiten wie Leukämie und Mißbildungen noch immer nicht mit dem Reaktorunglück in Verbindung gebracht?

Nein. In dem radiologischen Forschungszentrum in der Nähe von Kiew wurde betont, daß es Krankheitserscheinungen gäbe, wie die Zunahme von Krebs und Kindersterblichkeit. Aber die seien nicht einfach auf die Reaktorkatastrophe und die Strahlung zurückzuführen. Zum anderen klagte die zuständige Ärztin für Neurologie über die andauernde „Radiophobie“.

Helfen sich die Menschen inzwischen auch selbst, wie in Belorußland?

Die in Kiew gegründete Organisation „Grüne Welt“ ist da sehr aktiv. Trotzdem wird noch viel zu wenig der Geist der Selbsthilfe und der Selbstorganisation praktiziert. Ich habe auch eine Organisation von Müttern kennengelernt, „Mama 86“, die zur Zeit des Unglücks schwanger waren, und die sich neben medizinischer Hilfe auch für veränderte Agrarstrukturen starkmachen. Solche Lebensmittelkooperativen sollten wir unterstützen. Die Lebensmittelversorgung ist die reinste Katastrophe. Ich war auf dem Markt in Kiew, wo man Apfelsinen, Zitronen und Tomaten kaufen kann. Die kommen von Händlern aus Aserbaidschan, die ein Zehntel oder ein Zwanzigstel des Monatslohnes für eine Orange verlangen. Ich denke auch, daß die Moskauer Ebene viel zu sehr geschont wird, daß die Verantwortlichen im Moskauer Energieministerium, im Gesundheitsministerium und in der Regierung viel gezielter angegangen werden müssen. Momentan werden die Gefühle eher in der Unabhängigkeitsbestrebung der Republik ausgedrückt, das heißt, wenn auf der Straße oder in Debatten das Tschernobyl-Unglück offen kritisiert wird, folgt sofort der Ruf nach Unabhängigkeit.

Wie wird in der Ukraine den Leuten rein praktisch geholfen?

Da passiert meiner Ansicht nach zu wenig. Es gibt ein Stück Glasnost und Anfänge von Parteienpluralismus. Aber nach wie vor funktioniert viel über Beziehungen und Klüngel. Doch die Verantwortung kann nicht nur an die Bürokratie abgeschoben werden. Auch die internationale Atomenergiebehörde muß zur Verantwortung gezogen werden, denn sie hat diesen Reaktortyp, von dem noch 13 in der UdSSR in Betrieb sind, für sicher erklärt und erklärt weiterhin AKWs für sicher. Wir tragen auch für die 660.000 Liquidatoren eine Verantwortung, denn sie sind die Opfer und Märtyrer dafür, daß Europa nicht noch stärker verstrahlt wurde. Man wird nicht wieder 660.000 finden, die bereit sind, ihr Leben zu geben, wenn die Löcher im Sarkophag reißen und eine zweite Katastrophe über uns hereinbricht — in Biblis und Greifswald erst recht nicht. Interview: Bärbel Petersen