Ein Dokument menschlichen Versagens

Im Jahre 1976 prophezeite der sowjetische Atomenergie- Spezialist Grigori Medwedjew die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Kurz nach dem Unglück, Ende April 1986, beorderte ihn das Energieministerium nach Tschernobyl. Seine Eindrücke sind ein erschütternder Bericht, der nun in Buchform vorliegt.  ■ VONIRENEMEICHSNER

Bitterkeit ist es, woran er sich als erstes erinnert, wenn er an „den“ Tag zurückdenkt, als er von der Explosion im Atomkraftwerk Tschernobyl hörte. Denn Grigori Medwedjew hatte „so etwas“ kommen sehen, wie andere auch, obwohl das tatsächliche Ausmaß eines solchen Unfalls auch ihn überraschte.

Als sich vor fünf Jahren die Katastrophe von Tschernobyl ereignete, war Medwedjew „stellvertretender Leiter der Hauptbetriebsverwaltung für den Bau von Atomkraftwerken“ im sowjetischen Energieministerium. Anfang Mai 1986 wurde er nach Tschernobyl beordert, um die Situation vor Ort zu analysieren und seinem Ministerium zu berichten.

Medwedjew ist Fachmann. Schon in den siebziger Jahren war er selbst mit der Bau- und Montageplanung für den Unglücksreaktor befaßt gewesen, hatte ihn „in- und auswendig“ kennengelernt, war zum Vorsitzenden einer Expertenkommission berufen und mit einem Gutachten über die zweite Baustufe des bereits ausgearbeiteten Projekts betraut worden. Sein Fazit, 1976 in einer Rede vor dem zuständigen technischen Rat: In einem derartigen Reaktor werde es früher oder später zu einer Explosion kommen.

Was er seinerzeit bewirken konnte, war nur ein Aufschub der Bauarbeiten um ein Jahr. Die Arbeit eines 3.000köpfigen Kollektivs wäre andernfalls zunichte gewesen. Der Ministerrat schaltete sich ein, der Vorsitz in der Expertenkommission wurde mit einem „bequemeren“ Kollegen besetzt.

„Wir Atomkraftwerker sind alle schuldig ... vor der ganzen Welt. Auch ich bin mitschuldig“, schreibt Medwedjew heute, ein Mann, der damit leben muß, daß er trotz aller Zweifel als Fachmann für Atomenergie weitergearbeitet hat: „Wir, die Wissenden, haben uns nicht genug engagiert, um die Menschen über die Gefahren aufzuklären. Es ist uns nicht gelungen, die Mauer der offiziellen Propaganda von der angeblichen Sicherheit der Atomkraftwerke zu durchbrechen.“

Nach der Katastrophe von Tschernobyl führte er vom ersten Tag an Tagebuch. Er begann Material zu sammeln, interviewte Augenzeugen, besuchte Strahlenopfer „der ersten Stunde“ in den Krankenhäusern. Im Spätsommer 1986 faßte er den Plan für ein Buch, das aber erst drei Jahre später in seiner Heimat gedruckt werden sollte und nun auch in deutsch vorliegt: die erste minutiöse Schilderung vom technischen Ablauf des Dramas von Tschernobyl und ein erschütterndes Dokument von menschlichem Versagen, Hilflosigkeit und Verlogenheit.

Glaubt man Medwedjew, brachte sein Buch die Diskussion um Tschernobyl in der Sowjetunion erst richtig in Gang. Niemand, weder im Ministerium noch im Atomkraftwerk selbst, habe sich ein exaktes Bild über den Hergang des Unfalls machen können: „Die Informationen lagen 1986 vor, aber sie wurden nicht miteinander in Beziehung gesetzt. Darum kann man genausogut sagen: Sie haben nicht vorgelegen.“

Auf drei Jahre bemißt Medwedjew die Zeit, in der in der Sowjetunion die „Partei der Lüge“ regierte. An der Spitze derer, die die Wahrheit unter den Teppich kehrten: die hoch angesehene Akademie der Wissenschaften unter ihrem Präsidenten A. P. Alexandrow. Wahr sei dagegen, daß der offizielle Bericht, der im August 1986 der internationalen Atomenergiebehörde IAEO in Wien vorgelegt wurde, bewußt gefälscht war, Fachleute gezwungen wurden, die Wahrheit über technische Konstruktionsmängel zu verschweigen — auf Anweisung auch jenes Politbüromitglieds, das im Zentralkomitee der KPdSU für Energiefragen zuständig war.

Bis heute werde in der Sowjetunion nicht „die volle Wahrheit über Tschernobyl“ gesagt. Für Medwedjew betrifft sie vor allem die Folgen der rund fünf Millionen Menschen, darunter zwei Millionen Kinder — denen, die noch immer in radioaktiv verseuchtem, aber auch solche, die in „sauberem“ Gebiet leben. Mindestens zwei Millionen Tonnen radioaktive Milch und 600.000 Tonnen verseuchtes Fleisch seien schon in „saubere“ Gebiete verkauft worden. Selbst wenn die Menschen dort um die Gefahr wüßten, sie hätten gar keine Chance, sich zu wehren: Niemand verfügt über Meßgeräte.

Auf 100 Milliarden Rubel schätzt Medwedjew die Summe, die von der Regierung aufgewendet werden müßte, um den Menschen endlich zu helfen. Er fordert, „sofort“ damit anzufangen, bei allen fünf Millionen Betroffenen festzustellen, welche Dosis sie abbekommen haben — darunter die rund 660.000 Liquidatoren, Menschen im Alter von 20 bis 30 Jahren, die zum Teil mit bloßen Händen Graphitstücke aus dem brennenden Reaktor und herausgeschleuderten Brennstoff beseitigt haben.

Was Medwedjew am meisten empört: Die Verantwortlichen im Gesundheitswesen seien größtenteils im Amt geblieben — und würden weiter lügen. Paradebeispiel dafür ist der ehemalige Chefarzt einer anderen betroffenen Region, der beschwichtigend durch die Lande zieht. Im Ural, in der Nähe von Tscheljabinsk, ereignete sich im September 1957 infolge einer spontanen Kettenreaktion von Brennstoffabfällen eines Atomreaktors eine Katastrophe, durch die Zehntausende von Menschen gestorben sein sollen. Über 30 Jahre wurde diese „Havarie“ verheimlicht, niemand evakuiert. Heute tönt dieser Mediziner, in der Region um Tscheljabinsk hätten Menschen mit einem Vielfachen der Tschernobyl-Dosis überlebt. Medwedjew habe ihn gefragt, warum er lüge, obwohl er als Arzt doch wissen müßte, daß vielleicht Tausende von Menschen dem Tod geweiht seien. „Die drehen mir sonst den Kopf ab“, soll die Antwort dieses Mannes gewesen sein, den Kollegen angeblich nur noch verwundert fragen, warum er immer noch nicht im Gefängnis sei, immer noch lebe: „Wenn ich kurz vor dem Abkratzen bin“, zitiert ihn Medwedjew, „dann schreibe ich alles auf.“

Wie es bei gezielter Lüge und Geheimhaltung bleiben konnte, obwohl eine Reihe von Leuten um die Gefahren der Reaktoren in Tschernobyl wußten? Nach Übereinkunft sowjetischer Behörden fordert der Umgang mit Atomenergie „seine Opfer“. Strahlenfolgen werden also von vornherein einkalkuliert. Wer in diesem Bereich arbeitet, wird in der Sowjetunion schon mit 50 berentet.

Medwedjew kündigte seinen Posten im Energieministerium mit 52 Jahren. Im Mai 1987 hatte er den letzten Punkt unter sein Manuskript gesetzt. Dann begann die „Jagd auf das fertige Manuskript“. Denn mehrmals sei er vom sowjetischen Geheimdienst KGB über seinen unmittelbaren Vorgesetzten im Ministerium aufgefordert worden, die Arbeit an seinem Buch einzustellen. Ein Militärstaatsanwalt soll persönlich bei einem Verlag vorgesprochen haben, aus dem Ministerrat und dem Zentralkomitee der KPdSU sollen Anrufe gekommen sein. Medwedjew vermutet, daß eine der Zeitschriften, denen er den Text zum Druck angeboten hatte, eine Kopie weiterleitete. Aber: „Ich hatte mehrere Exemplare und mußte dafür sorgen, daß sie nicht alle beim KGB landen würden.“ Mitarbeiter des Atomkraftwerkes Tschernobyl sollten angeblich dem KGB unterschreiben, daß sie keine Erkenntnisse weitergeben würden. Mit ihnen einigte sich Medwedjew, daß sie sich, falls „vom KGB an der Gurgel gepackt“, von ihren Informationen distanzieren würden.

Die Tagebuchaufzeichungen von Grigori Medwedjew hat der Carl Hanser Verlag unter dem Titel „Verbrannte Seelen“ herausgegeben.