GASTKOMMENTAR
: Die Achilleswade

■ Ein starkes deutsches Stück um den Alfred-Kerr-Preis

Die öffentliche Erregung über die Verleihung des diesjährigen Alfred-Kerr-Preises für Literaturkritik sollte man nicht einfach als eine der üblichen Feuilleton-Affären rubrizieren. Denn hinter den vorgegebenen O-Tönen lauern ganz andere Gefahren. Zunächst die Fakten.

Der Stifter des Kerr-Preises — der Börsenverein des (bis dato West-) Deutschen Buchhandels — beschloß vor Jahresfrist eine Prämisse: Diesmal sollten Zeitungen oder Zeitschriften der damals Noch- DDR bedacht werden. Als die Jury, der unter anderem der Publizist Walter Boehlich und der Schriftsteller Peter Härtling angehörten, ihre Arbeit aufnahm, war der 3. Oktober schon vorüber. Vorgabe hin und her: Die Noch-Zeitungen der Neu-Bundesländer kamen unter die Lupe, und die Wahl fiel auf zwei Ex-Zentralorgane. Zwar wurden ausdrücklich nur redaktionelle Teile jeweils für preiswürdig befunden — der „kompetente Sachbuchteil“ von 'Neues Deutschland‘ (früher SED- jetzt PDS-Parteizeitung) und die belletristische Kritik der 'Neuen Zeit‘ (früher Hausblatt der Blockflötenpartei Ost-CDU, jetzt zur 'FAZ‘ gehörig), doch der Eklat war da. Die Vorsteherin des Börsenvereins verweigerte (gedrängt oder freiwillig) die öffentliche Preisverleihung. Die 'FAZ‘ betrieb eine absurde Teilinformationspolitik. Über „dekorierte Wendehälse“ erboste sich die 'Süddeutsche Zeitung‘. Die 'Frankfurter Rundschau‘ nannte das wiederum „pfäffisch“, witterte „ND-Hysterie“ und sprach von einer „neuen Deutschenposse“. Und der Juror Boehlich prangerte soeben in der 'Zeit‘ den seiner Ansicht nach „wahren Skandal“ an: das Schweigen des Börsenvereins zu Zensurversuchen auf der Frankfurter und zur gängigen Zensur auf der Leipziger Buchmesse und deutet — ohne einen Namen zu nennen — auf einen braunen Denunzianten, der in eben diesem Börsenverein „in hohe Ehrenämter aufsteigen“ konnte.

Wahr ist: Zu viele — und eben nicht nur der Börsenverein, sondern zahlreiche, und nicht zuletzt auch linke Intellektuelle — haben zu versuchter, noch mehr zu praktizierter Zensur (nicht nur) in der DDR zu laut geschwiegen. Geradezu fatal ist aber die nahegelegte Schlußfolgerung aus Boehlichs Argumentation: Wer das tat oder duldete und zudem noch Ex-Braune in seinen Reihen hatte... darf jetzt nicht protestieren, ist ein „schöner Demokrat“.

So weit, so gewohnt die Finten und Finessen aus dem Fundus des Lagerdenkens. Was aber wollte die Kerr-Jury uns mit ihrer Wahl sagen? Daß auch am Schlechteren noch immer ein gutes Körnchen sei? So viel positiv-zeitgeistige Lebenshilfe ist aus dieser Ecke kaum zu erwarten. Wollte sie dies Füßchen küssen, jene Wade streicheln — und uns glauben machen, das Drumherum gar nicht zu meinen? Eine derart kleinteilige Draufsicht wäre nun wirklich unter ihrem Niveau. Wollte sie provozieren? Das ist vordergründig gelungen.

Was sie produzierte, ist schlimmer: Sie wob mit am Faden zur Verpuppung des faktischen, an der Legende der (falschen) historischen Gleichung. Denn: der NS-Bazillus war schlimm genug und ist noch immer nicht ungefährlich. Aber: Was tun gegen die „Stasi“, diese SED-eigene Züchtung, mit schwarzer Psychologie und modernsten, tiefen- und massenwirksamen Methoden? Und welches Kraut gegen Stasiphylis? Zentralorgane waren und sind nun mal Transmissionskörper, und in die zugehörigen Waden möchte man eigentlich nicht mal mehr beißen... Anna Jonas

Lyrikerin und ehemalige Vorsitzende des Westberliner Schriftstellerverbandes