INTERVIEW
: „Fast total gescheitert“

■ Heute vor zehn Jahren trat François Mitterrand seine Präsidentschaft an

Das offizielle Frankreich feiert: Heute vor zehn Jahren begann eine neue Ära. Der Sozialist François Mitterrand trat die Nachfolge Giscard d'Estaings an. Die 23jährige Herrschaft der Konservativen war damit zu Ende. Alain Lipietz, Wirtschaftswissenschaftler im französischen Forschungsinstitut CNRS, zieht eine kritische Bilanz. Lipietz hat als einer der ersten ein Buch über die Wirtschaftspolitik der Linken veröffentlicht (L'Audace ou l'Enlisement, Paris 1984) und ist Sprecher der Wirtschaftskommision der französischen Grünen.

taz: Die sozialistische Herrschaft begann mit einer Utopie, Mitterrands Wähler hofften auf eine neue, gerechte Gesellschaft. Was hat Mitterrand von diesen Hoffnungen verwirklicht?

Alain Lipietz: Wenig. Mitterrand war nur in zwei Bereichen erfolgreich, bei der Dezentralisierung und der europäischen Einigung. Er hat eine administrative Revolution durchgesetzt, denn seit Napoleon war Frankreich extrem zentralisiert. Mitterrand hat die Autonomie der Kommunen und Departements vergrößert, in geringerem Maße auch die der Regionen. Das war eine kolossale Leistung. Die Einigung Europas stand nicht ausdrücklich im gemeinsamen Programm der Linken von 1981, sondern war ein Wunsch Mitterrands. Zur Erinnerung: Er hat 1957 als Minister selbst die Römischen Verträge unterzeichnet. Für mich sind das die einzigen Bereiche, in denen er erfolgreich war; in allem anderen ist er total gescheitert.

Ein wichtiges Ziel der Sozialisten war der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit. 1981 gab es in Frankreich 1,8 Millionen Arbeitslose, heute sind es 2,6 Millionen. Wie erklärt sich dieser Mißerfolg?

Links sein, das hieß für die Sozialistische Partei vor allem modernisieren, denn sie assoziierten den archaischen Charakter der fränzösischen Gesellschaft mit der Rechten. Die Linke glaubte, mit guten Beamten könnte sie eine konkurrenzfähige Industrie aufbauen. Die Idee der sozialen Gerechtigkeit war nur ein Mittel zur Modernisierung. Anfangs versuchten sie, die Umverteilung der Kaufkraft zu beschleunigen, um die Unternehmer so zu höherer Produktivität und damit zu mehr Investitionen zu zwingen — was man als keynesianisches Programm der Linken bezeichnet. 1983 war jedoch das Scheitern dieser Politik deutlich. Die Sozialisten haben die Vorstellung des Aufschwungs und der Rolle des Staates aufgegeben und nur die Idee der Modernisierung beibehalten. Die überwältigende Mehrheit der Parteifunktionäre träumt heute nur noch von der Modernisierung der Industrie. Zu diesem Zwecke haben sie die europäische Integration so stark wie möglich gefördert; durch die Öffnung der Grenzen wollten sie die Arbeitgeber zu Investitionen verpflichten. Soziale Gerechtigkeit interessiert die Sozialisten nicht.

Die hohe Arbeitslosigkeit ist ein wesentlicher Grund für Spannungen in vielen Vorstädten. Kann man die Sozialistische Partei für das Entstehen einer Zwei-Chancen-Gesellschaft verantwortlich machen?

1983 hat die Sozialistische Partei die Idee aufgegeben, die Gesellschaft sozialpolitisch zu verändern. Durch ihre liberale Modernisierungspolitik ereignet sich in Frankreich mit rund zehn Jahren Verspätung der gleiche Niedergang der Städte wie in den USA und Großbritannien. Die Sozialisten haben die Chance verpaßt, rechtzeitig eine Stadtpolitik zu entwickeln.

Heute ist es soweit, die Reichen haben unter den Sozialisten dazugewonnen. In Frankreich sind die Reichen reicher als in Deutschland. Aber die Verlierer in Frankreich sind weitaus schlechter dran als die Türken in Deutschland.

Als einschneidenstes Ergebnis der vergangenen zehn Jahre bezeichnen viele Franzosen den Vormarsch der Nationalen Front von Le Pen und, an zweiter Stelle, den Niedergang der Kommunistischen Partei. Wie fügen sich diese Entwicklungen in die Zeit der Präsidentschaft von Mitterrand ein?

Die Kommunisten sind selbst für ihren Niedergang verantwortlich. Bis 1983 waren Sozialisten und Kommunisten alliiert, dann haben die Sozialisten auf die Karte der Modernisierung gesetzt. Die Kommunisten lehnen die sozialistische Politik seither ab, allerdings ohne eine Alternative vorzuschlagen. Die Sozialisten verließen das linke Terrain, und die Kommunisten waren nicht in der Lage, es zu besetzen. Ein Teil ihrer damaligen Anhänger, die der liberalen Modernisierungspolitik zum Opfer gefallen waren, verloren dadurch ihre ideologische Zugehörigkeit. Gerade in den traditionellen kommunistischen Hochburgen, in den Vororten von Paris, fielen sie der Nationalen Front in die Arme.

Ein weiterer Grund für das Aufkommen von Le Pen ist die Radikalisierung der traditionellen gaullistischen und liberalen Rechten, die sich bei den Kommunalwahlen 1983 erstmals getraut hatten, den Rassismus zu rechtfertigen; damals — als die Nationale Front noch ganz unbedeutend war — hatte die Rechte erstmals mit den Themen Immigration und innere Sicherheit Wahlkampf gemacht. Für die zunehmende Hoffnungslosigkeit sind die Sozialisten und Kommunisten verantwortlich, für die Enttabuisierung des Rassismus die Rechte, beides zusammen begünstigte die Nationale Front.

Kann man der Sozialistischen Partei vorwerfen, sie habe den Rassismus begünstigt, weil sie zu einer durchdachten Einwanderungspolitik nicht den Mut gehabt hat? Sie ist ja von ihrem Versprechen abgerückt, den Immigranten das Wahlrecht zu geben.

Dem Phänomen des Rassismus gegenüber haben sich die Sozialisten völlig unfähig und feige verhalten. Mit dem Wahlrecht für Immigranten hätten sie der Demagogie die Schranken gewiesen, denn dann hätte sich ja selbst die Rechte um die Stimmen der Einwanderer bemühen müssen. Zudem haben die Sozialisten nicht klargestellt, daß die Immigranten für die Probleme der sozialen Sicherheit keinerlei Verantwortung trifft.

Sehen Sie einen Unterschied zwischen Mitterrand und den anderen führenden sozialistischen Politikern?

Mitterrand ist derjenige Funktionär der Sozialisten, den ich am meisten schätze, weil er Humanist ist. Die übrigen Parteifunktionäre sind eben hohe französische Verwaltungsbeamte — alle vom gleichen Schlag. Chevènement, Rocard, Fabius, sie alle haben die Eliteschule ENA absolviert, die die französischen Technokraten ausbildet — rechte wie linke. Die Linken sind nur etwas pragmatischer als die Rechten.

Was ist an der Politik der Sozialisten denn heute noch sozialistisch?

Es ist tatsächlich fraglich, ob die Sozialisten noch irgendetwas mit dem zu tun haben, was man Sozialismus nennen könnte. In den 70er Jahren hielt sich die Partei für linker als die deutschen Sozialdemokraten. Ich war immer der Ansicht, daß die SPD linker sei als die PS. Die Sozialisten bestehen aus einem Gemisch von Modernismus und einem vagen Humanismus, wie er aus der Resistance hervorgegangen ist. Sie haben überhaupt keine Verbindung zur Arbeiterbewegung. Die Sozialistische Partei ist eine laizistische modernistische Partei mit einer Phraseologie, die folgender Idee entsprach: Die Rechte ist archaisch, weil sie den Partikularinteressen freien Lauf läßt, ohne das Gemeinwohl im Auge zu behalten; Sozialismus hingegen bedeutet, daß der Staat die Unternehmer zwingt, dem Gemeinwohl Rechnung zu tragen. Seitdem die Sozialistische Partei 1984 erkannt hat, daß der Staat darauf keinen Einfluß hat, hat sie nichts spezifisch Sozialistisches mehr zu sagen. Interview: Bettina Kaps