: Rückwärtsentwicklung der Demokratie
In Südkorea protestieren 200.000 Studenten und Dissidenten gegen die Regierungspartei ■ Aus Seoul Peter Lessman
In Südkorea haben am Donnerstag landesweit 200.000 Studenten gegen die Regierung von Staatschef Roh Tae Woo protestiert. Dabei kam es in fast allen größeren Städten zu schweren Zusammenstößen mit paramilitärischen Polizeikräften. Unter einem Hagel von Tränengasgranaten forderten die Studenten immer wieder den Rücktritt von Roh und seiner Regierungspartei. Mehrere Mitglieder der oppositionellen Demokratischen Partei wurden dabei von Polizeikräften abgeführt. Präsident Roh sagte am Donnerstag, sein Kabinett werde im Amt bleiben.
„Vor vier Jahren, während des Kampfes um Demokratisierung und Direktwahl des Präsidenten, hatten wir ein klares Ziel vor Augen“, sagte Pfarrer Oh Young Shik, der in einer kleinen Seouler Slumgemeinde arbeitet. Die großen Demonstrationen von damals hatten das Militärregime des Exdiktators Chun Doo Whan zu Fall und den Südkoreanern erstmals mehr demokratische Rechte gebracht. In den gestrigen Protesten aber, meinte Pfarrer Oh, seien die Ziele weniger klar. In den Demonstrationen entlade sich vor allem der Ärger über die Rückwärtsentwicklung der Demokratie.
Vor zwei Wochen wurde die neue Welle von Demonstrationen durch den Prügeltod des 20jährigen Studenten Kang Kyong Dae ausgelöst. Polizisten der berüchtigten Weißhelm-Brigade „Paekuldan“ hatten den Hochschüler mit Eisenstangen totgeschlagen. Der Innenminister mußte seinen Hut nehmen, und die fünf angeblichen Täter wurden verhaftet und sollen wegen Totschlags angeklagt werden.
Doch Dissidenten sehen in dem tragischen Ereignis System: Nicht die fünf Polizisten, sondern die Regierung mit ihrer „Gewaltherrschaft“ und harschen Sicherheitsgesetzen sei für die Tat verantwortlich zu machen, sagen sie. Roh Tae Woo hätte seine Demokratisierungsversprechungen von 1987 nicht gehalten. Und das rechtfertige den Widerstand gegen das „diktatorische Regime“ auch moralisch. Der Vater des toten Studenten forderte gar die Freilassung der fünf Polizisten, die auch nur Opfer des Regimes seien. Er wolle sie symbolisch als seine „neuen Söhne adoptieren“.
Das „nationale Arbeitskomitee“, ein loser Verbund von rund fünfzig kritischen Organisationen, verlangt, wie auch Parteien der Opposition, den Rücktritt des Kabinetts und Auflösung der Paekuldan. Und da die Regierung ihre Forderung bislang ignorierte, soll ab sofort sogar bis zum „Sturz des Roh-Regimes“ gekämpft werden.
Nach Angaben des Nationalen Kirchenrates gab es in Südkorea bis zum 25. März 1991 insgesamt 1.149 politische Gefangene. Nahezu 50 Prozent der Inhaftierten wurden wegen Verstößen gegen das berüchtigte antikommunistische Sicherheitsgesetz angeklagt. Verhandlungen im Parlament über eine Revision des Gesetzes scheiterten erst diese Woche, weil die Regierung die Vorschriften nicht grundlegend verändern möchte.
Zusätzliche Nahrung erhielten die Demonstrationen in den vergangenen Tagen durch vier Selbstverbrennungen von Studenten, drei davon endeten tödlich. Diese Aktionen seien das letzte und machtvollste Mittel, das ein Individuum einsetzen könne, sagen Mitglieder der verbotenen Lehrergewerkschaft. „Allein durch die Kraft des Volkes“, heißt es in einem pathetischen Abschiedsbrief eines Studenten, „kann das mörderische Regime gestürzt werden.“
Doch in Kreisen der Opposition wächst Kritik an solchen Aktionsformen. Der bekannte Dissidentenpastor Moon Ik Hwan wie auch das Arbeitskomitee appellierten in den vergangenen Tagen mehrmals an die Studenten, sich nicht das Leben zu nehmen und statt dessen den Kampf gegen die Regierung zu führen. Gleichzeitig wird diese beschuldigt, durch ihre Hartnäckigkeit die Aktionen erst provoziert zu haben.
Auch wenn heute wieder 200.000 auf die Straße gingen, hat der Protest in Südkorea noch längst nicht die Dimension der Bewegung aus dem Jahr 1987 angenommen. Denn noch fehlt es den vielen jungen Studenten an einer breiten Unterstützung durch die Bevölkerung. Hinzu kommt, daß die Ziele des Kampfes der Aktivisten im dunkeln bleiben. Einige unter ihnen bezeichnen die Roh-Regierung gar als „Militärdiktatur mit faschistischem Charakter“.
Aber damit scheinen sie sich selbst zunehmend zu isolieren. „Die Mehrheit der Südkoreaner will demokratische Reformen“, meint Soh Kyung Suk von der Bürgerkoalition für ökonomische Gerechtigkeit, „aber sie ist vor allem auch an Sicherheit und Stabilität interessiert.“ Wie es nun weitergehen werde und ob die Proteste auch andere Bevölkerungsgruppen erfassen könnten, das würde ganz vom Reformwillen der Regierung abhängen, sagt Soh.
Inzwischen fordern auch andere soziale Gruppen eine demokratische Erneuerung und ein Ende der „Politik durch Gewalt“. Mutige politische und wirtschaftliche Reformen müsse die Regierung durchsetzen, Menschenrechte garantieren und undemokratische Gesetze beseitigen, forderten 257 buddhistische Mönche in einer Erklärung. Auch 70 Professoren der Seouler Nationaluniversität verlangten ein Einlenken der Regierung.
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