Die Barrikadenkämpfer geben nicht auf

Wenig Vertrauen in die Erklärung des Staatspräsidiums/ Warum werden die Cetnik-Führer nicht verhaftet?/ Soldaten in Mostar fühlen sich „mit dem Volk verbunden“/ „Lieber in Bosnien als dort, wo scharf geschossen wird“  ■ Aus Mostar Roland Hofwiler

Auf beiden Seiten der Barrikade herrscht Ruhe. Dort die Panzerkolonne, hier ein paar hundert aufgebrachte kroatische Bauern, die niemanden passieren lassen. Weder vor noch hinter den umgestürzten Baumstämmen und quergestellten Traktoren spürt man Erleichterung. Die Bundesstraße 11, meldet der Rundfunk, sei zwischen Mostar im Süden der Republik Bosnien-Herzegowina und der kroatischen Hafenstadt Split weiterhin gesperrt. An der Sperre selbst, beim Kilometerstein am Dorf Listica, hört man gespannt auf die neuesten Nachrichten. Doch wie man auch am Gerät dreht, jeder Sender bringt an diesem Donnerstag morgen immer wieder die gleiche Meldung aus Belgrad. In den frühen Morgenstunden ist die dreitägige Marathonkonferenz des kollektiven Staatspräsidiums zu Ende gegangen. Das oberste Machtgremium des Vielvölkerstaates hat „konkrete Maßnahmen für eine dauerhafte Lösung“ der blutigen Nationalitätenkrise beschlossen. Man hört jedesmal wieder genau hin. Doch beidseitig der Straßensperre versteht man die Welt nicht mehr. „Einen Monat lang“, heißt es, „dürfen sich mit Ausnahme der Bundesarmee keine bewaffneten Gruppen in den Konfliktregionen Kroatiens bewegen.“ Der Rest der Erklärung interessiert kaum: Man solle an den Verhandlungstisch zurückfinden, serbische und kroatische Politiker mögen sich bitte an einen Runden Tisch setzen. Aber kein Wort darüber, wie es weitergehen soll, in den anderen Republiken und hier in Bosnien-Herzegowina, in Listica, hier in dieser multikulturellen Gegend, in der Serben, Kroaten und Muslimanen auf engstem Raum zusammenleben.

Auf seiten der Kroaten fragt man sich, weshalb es niemand wagt, den militanten Serbenführer Seselj zu verhaften, dessen Freischärler zum Morden in ihr Siedlungsgebiet einsickerten, wie sie glauben. Sind mit „bewaffneten Gruppen“ auch Sondereinheiten der neuen kroatischen Polizei gemeint, die sich außerhalb der Republik in letzter Zeit viel Kritik überziehen mußte? Wer soll überhaupt diese „Entwaffnungsaktion“ vornehmen? Die Armee, die fünfzig Meter vor einem steht? Man schaut sich seine eigenen Waffen an, mit denen man sich hinter die Straßenbarrikade setzte. Sensen, Schlächtermesser, Vorkriegsdolche und hin und wieder Pistolen und Schrotflinten. Waffenscheine hat man dafür keine. Aber man trägt sie heutzutage. Woher sie stammen, wird Fremden nicht erklärt. Als Ausländer wundert man sich nun, wie viele selbsternannte „Barrikadenkämpfer“ und „Bürgerwehren“ in Räuberzivil Karl Mays In den Schluchten des Balkan zu spielen versuchen.

Und sie spielen weiter. Gestern waren die Medien wie seit Tagen auf Kampf eingestellt. Vojislav Seselj kam in Radio Beograd zu Wort, donnerte gegen Armee, Staatspräsidium und den „kroatischen Feind“, Radio Split und Radio Mostar feuerten die „Widerstandskämpfer“ vor den Barrikaden an, auszuharren, die Armee zum Rückzug zu bewegen und achtsamen Auges darüber zu wachen, daß keine „Seselj-Truppen“ neue Terroranschläge vorbereiten.

Und auch die Armee schob gestern ihre Einheiten wieder wie beim Sandkastenspielen auf den Straßen der sechs Republiken Jugoslawiens hin und her. Galt der Truppenaufmarsch vor Tagen nur in den „Bürgerkriegsregionen“, so findet man Truppenverbände vom slowenischen Alpenvorland bis zum Ohrider See. „Das sind dringend vorbeugende Maßnahmen“, erzählt ein Leutnant, den das Weiterkommen seiner Einheit auf der Bundesstraße nach Split nicht besonders zu stören scheint. Er ist gesprächsbereit: „Lieber hier in den bosnischen Bergen unter Kroaten und Muslimen als unten an der Küste unter serbischen und kroatischen Streithähnen.“ Anders als in den Krisenherden Borovo- selo, Plitvicer Seen oder Split, wo bereits scharf geschossen wurde, herrscht in Listica vorerst nur gespannte Ruhe. Der Leutnant: „Unsere Volksarmee ist mit den Menschen, schauen Sie sich doch die Rekruten an, die schießen nicht, die wollen nur Extremisten abschrecken.“ Doch die Generäle, drängten sie nicht zur Macht? Zum landesweiten Ausnahmezustand? Fragen, die nicht beantwortet werden.

Auf der kroatischen Seite der Barrikade meint man, die oberste Armeeführung sei serbenfreundlich und die Übergänge zum Freischärler Seselj fließend. So hörten sie es im kroatischen Radio und glauben es. Nach den Staatsbeschlüssen in Belgrad eilten hohe Politiker gestern zu ihnen nach Listice. Auch Stepan Kluić, bekannter kroatischer Abgeordneter, kam, um zu schlichten. Die störrischen Bauern hörten aber nicht auf seine Warnung, die kleinste Provokation genüge, und die glühende Lunte könne das bosnische Pulverfaß zum Explodieren bringen. So harren beide Seiten aus. Und man fragt sich, wenn schon hier, wo noch kein einziger Schuß fiel, eine Schlichtung scheitert, wie soll sie nur in den nächsten Tagen dort gelingen, wo Menschen bereits ihr Leben ließen?

Am späten Nachmittag war übers Radio aus dem Belgrader Verteidigungsministerium zu hören, man werde die Straßenblockaden „durch bewaffnete Extremisten mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln beseitigen“. Westlich der Barrikaden stauen sich die Militärtransporte. In den anderen Republiken ist jetzt die Teilmobilmachung tatsächlich angelaufen. 200 Elitesoldaten sind nach Slowenien eingerückt — eine eher symbolische Aktion, da Slowenien bereits 20.000 Bundestruppen „zu Gast hat“. Die Teilmobilisierung der Reservisten scheint auf Widerstand zu stoßen. In Serbien sollen sich in einer Reihe von Städten junge Leute geweigert haben, dem Einberufungsbefehl Folge zu leisten und sind bei Freunden untergeschlüpft.