Die Flügel von Lucinde

■ Wie Dorothea Schlegel katholisch geworden ist / Ein schönes Buch, vorgelesen im späten Bücherfrühling

So eine Lesung versprüht oft feinsten Zauber. Carola Stern, 65, hat zweihundert Jahre zurückgelegt und das ferne Leben der Dorothea Schlegel studiert und, der Umstände halber, Material gesammelt: Briefe und wieder Briefe, selbst Kochbücher und Einrichtungsratgeber, und hat geharkt und umgegraben und den kargen historischen Boden bepflanzt mit kleinen Geschichten und besprengt mit Intuition und vier lange Jahre bearbeitet mit der freundlichen Sorgfalt, die ihr im Gesicht geschrieben steht. Es ist ein kleines Gesicht, in warme Pausbacken eingelegt; graue Haare, mit dem Kamm herabgezogen wie eine Mütze.

Heute also, wir schreiben Donnerstag, den vorletzten Tag des „Bücherfrühlings“, sitzt sie im Kultursaal der Angestelltenkammer und liest und plaudert nach getaner Arbeit und hat das Vergnügen, Seite um Seite wieder herauszulesen, was sie mal hineingesteckt hat. Das zahlreiche Publikum freut sich auch und lacht. Und betrachtet genüßlich diese Winzerin beim Lesen von selbstgebautem Wein.

„Ich möchte mir Flügel wünschen“, heißt zurecht das Buch. Dorothea Schlegel, geborene Mendelssohn, hatte, vor lauter Sturm und Drang, zähe Kämpfe auszustehen. Eine Bewegungsfrau, die erste womöglich. Gewillt, dem Himmel sein Eiapopeia zu lassen, aber ihr höchstpersönliches Glück hienieden zu vernaschen. Und Zuckererbsen nicht minder. Hat den ihr zubedachten Mann verlassen und sich den Friedrich Schlegel ausgesucht, den frühromantischen Philosophen, der ihr bald in seinem Modellroman Lucinde huldigen wird.

Lucinde macht Skandal. Geradeso leben ja doch, so munkeln die Leute, Friedrich und Dorothea: ohne Trauschein, und womöglich extra sinnenfröhlich, und gehört vielleicht in ein Buch, wer oben liegt? Da hat Frau Stern gut lächeln, wenn die großen Geschlechterfragen der Historie kreißen und so schöne kleine Geschichten gebären. Für Dorothea fiel nicht nur Lustiges ab. Sie hat selber geschrieben (“Florentin“) und übersetzt und hatte nicht viel davon. Ihr geliebter Schlegel war gelegentlich ein alter Arsch und Friedrich und hat ihre Arbeit gern als die seine ausgegeben. Und von der Kraftanstrengung, ihre Liebe durchzusetzen, auch gegen den Vater Moses Mendelssohn, den Parade-Aufklärer, hat Dorothea sich nicht mehr erholt.

Auja, bekennt Autorin Stern, die Angstfrage beim Forschen: „Wie um alles in der Welt kann man katholisch werden!“ Die emanzipierte Jüdin Dorothea konvertierte am Ende zum Frömmlertum. Hat viel Arbeit gekostet, sagt Frau Stern, sich damit vertraut zu machen.

Daß sie es ist, glaubt man der Biographin gern: Eine Vertraute, speziell schwieriger Gestalten, ist Carola Stern von Berufs wegen. Ihre bekannteste Biographie hat sie über Walter Ulbricht geschrieben. Seit die gewesene WDR-Redakteurin 1985 ihren Sender verlassen hat, weil sie „nicht noch'n Kommentar und noch'n Kommentar“ schreiben wollte, hat sie dafür Zeit. Ihre neue Figur, schon in Arbeit: Rahel Levin, spätere Varnhagen. Manfred Dworschak

Carola Stern: „Ich möchte mir Flügel wünschen“, 333 Seiten, Rowohlt, DM 39.80