: Ein Franc sind bloß 33 Pfennig
■ Wenn sie vom "Plattemachen" in Eis und Schnee genug haben, zieht es viele deutsche Obdachlose in den sonnigeren Süden Frankreichs. Christine Berger besuchte die reisenden Clochards
Wenn sie vom „Plattemachen“ in Eis und Schnee genug haben, zieht es viele deutsche Obdachlose in den sonnigeren Süden Frankreichs. CHRISTINE BERGER besuchte die reisenden Clochards.
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adame hat ein gutes Herz. Voller Mitleid stellt sie dem gebürtigen Pfälzer einen Plastikbecher heißen Kaffees neben den umgestülpten Schlapphut und wünscht ihm „Bonne Journée“. Der so beschenkte Tramp, der sich seit dem Herbst auf dem Trottoir zu Avignon „häuslich niedergelassen“ hat, kratzt sich verlegen am Nacken und murmelt ein kaum hörbares „Merci“ mit Betonung auf der ersten Silbe. Madame ist schon längst entschwunden, ein Hauch von teurem Parfum hängt in der Luft, während der Kaffee eifrig gegen die Morgenkälte in der südfranzösischen Rhône-Lokalität dampft. In der Fußgängerzone, wo Holger tagtäglich sein Schild „1 Franc — Merci“ den vorbeihastenden Passanten unter die Augen schiebt, ist die Kaffee-Spende eine nicht besonders geschätzte Rarität. „Wie in Mainz oder Koblenz eben — Knete brauchen wer. Wenn hier alle Leute mit Naturalien ankämen — da könnt' ich ja einen Laden aufmachen.“ Holger hat Humor. Trotz der zahllosen Nächte, die er im Freien verbringen muß, steht ihm der Schalk unter seinem struppigen Vollbart ins Gesicht geschrieben. Auch in der südlichen Provence sind im Herbst und Winter die Nächte kalt. Den fast vierzigjährigen Deutschen zieht es trotzdem alle Jahre wieder in die mediterranen Gefilde.
Und mit ihm etliche weitere Kumpel und „Kollegen“, die vom „Plattemachen“ bei Eis und Schnee die Schnauze voll haben. Sie kommen aus allen Ecken Deutschlands, haben außer ein paar Plastiktüten mit persönlichem Gepäck nichts zu verlieren. Sonne und Wein suchen sie im westlichen Nachbarland. Mit von der Partie sind immer ein paar Adressen von Kirchen und karitativen Einrichtungen, die das Überleben in fremder Zunge ein wenig erleichtern helfen. Ganz zu schweigen von den überlieferten Tricks, wie es sich auf weite Entfernungen am billigsten reisen läßt. Holger sagt, er habe sich seine Bahnfahrkarte von Mainz nach dem Süden vom Munde abgespart. „Schwarzfahren ist aber auch ganz leicht“, weiß er aus Erfahrung. „Einfach rein in den Zug und warten, bis der Schaffner einen wieder rausschmeißt. Dann mit dem nächsten weiterfahren.“ Holger will damit aber nichts zu tun haben, „denn ich bin ja nicht kriminell“. Die Standesehre, wie er sagt, sei ihm wichtig, und mit dem Ausdruck „Penner“ will er sich auf keinen Fall bezeichnet wissen. „Clochard klingt besser“, glaubt Holger und wird deshalb öfters von seinen deutschen Landsleuten belacht. Heinze aus München zum Beispiel will von Holgers „seriösem Gebrabbel“ nichts wissen. Ihm ist es völlig egal, wie sein Lebensstil genannt wird. „Hauptsache der Rubel rollt, und der Wein geht nicht aus“. Heinze hat es in diesem Winter in Avignon sogar zu einem kleinen Zimmer gebracht. Dort schlafen manchmal bis zu fünf Kumpel außer ihm auf dem Fußboden, fast immer Deutsche.
„Wir sprechen ja nicht französisch. Zu den Franzosen haben wir kaum Kontakt“, faßt Jens aus Hamburg die Sprachlosigkeit unter den Gesinnungsgenossen zusammen. Natürlich kreisen Wein und Bier auch international auf dem Place des Halles, wo sich die deutschen Brüder jeden Tag treffen. „Aber mehr als Saufen läuft nicht mit den Einheimischen“, sagt Jens und bietet mir einen Schluck aus der 1-Liter-Bierflasche an.
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ußer den fünf, sechs Deutschen, die sich täglich auf dem Platz vor der Markthalle versammeln, sind noch eine junge Korsin und ein alter Engländer mit von der Partie. Die 25jährige Madeleine spricht perfekt deutsch. Kein Wunder — wegen eines deutschen Vaters ist sie in Korsika zweisprachig aufgewachsen. Außerdem hat sie schon etliche Male in Hamburg und Berlin gelebt. Gewohnt hat Madeleine „in besetzten Häusern, Hafenstraße und so ähnlich“. Jetzt lebt sie seit zwei Monaten in Avignon vom Schnorren und Gelegenheitsarbeiten. „Die Leute geben hier ganz gut, du mußt nur freundlich sein“, erzählt sie. Als ich sie einmal bei der Arbeit begleite, haben wir innerhalb von nur einer Stunde einen netten Abend in der Kneipe zusammenverdient. „Ich kann mit den Leuten hier sprechen, das ist mein Vorteil gegenüber den Deutschen“, weiß Madeleine.
Sie freut sich, wenn sie deutsch reden kann, denn sie hat Angst, die Sprache zu verlernen. Ein Grund, weshalb sie oft mit Heinze, Jens und den anderen „Clochards allemands“ zusammenhockt. „Für die muß ich oft was übersetzen oder erklären. Vor allem habe ich denen erklärt, daß man beim Schnorren höflich sein muß. Haste mal 'ne Mark, ey — so was läuft hier nicht.“ Avignon ist nicht Berlin.
Eines Abends treffe ich in einer Kneipe einen heruntergekommenen Tramp mit einem völlig verfilzten Neufundländer. Keine fünf Minuten am Tresen, schon wird der Wirt handgreiflich und schmeißt den Mann ohne größere Umschweife vor die Tür. „Clochards haben hier nichts zu suchen“, ist seine knappe Begründung den Gästen gegenüber. Die Punks am Fenstertisch verziehen keine Miene. Auch die anderen Biertrinker regen sich nicht auf. Situationen wie diese scheinen völlig normal. Ich folge dem Opfer der Kneipen- Etikette nach draußen und hole ihn an der nächsten Straßenecke ein. Hans heißt er und ist gerade erst in die Stadt gekommen. Den Rausschmiß aus der Bar kennt er aus jedem Ort, „egal in welchem Land“. Jetzt jedenfalls haben er und sein Hund Durst und suchen „was für die Nacht“. Ich führe ihn zum Place des Halles, wo die deutschen Obdachlosen wie immer weinselig beisammensitzen. Hans wird feuchtfröhlich begrüßt, bekommt einen Willkommensschluck aus der 2-Liter-Weinpulle und muß sich mit zu den anderen auf die belagerten Sitzbänke quetschen.
„Wir sind eben so was wie eine Familie. Hier noch mehr als daheim“, sagt Holger wenig später. „Die meisten von uns, die es bis hierher schaffen, sind noch gut drauf. Nicht völlig kaputt von der Sauferei.“ Einen starken Hang zum Alkohol haben er und seine Kumpel aber ohne Zweifel. Oft sind die Bier- und Weinvorräte, die aus dem nächstgelegenen „Supermarché“ geschleppt werden, schneller leer, als der Einkauf gedauert hat. „Ist gut zum Pennen und gegen die Kälte nachts“, entschuldigt Holger die hemmungslose Alkoholvernichtung. Für feste Nahrung bleibt da wie in Deutschland auch nur selten ein Centime übrig. „Suppe gibt's manchmal bei den Pfaffen. Ansonsten leben wir von den Resten, die auf dem Markt abfallen“, meint Jens und zieht eine angefaulte Paprika aus einer Plastiktüte. „Was bleibt uns übrig“, meint auch Hans, der Hundebesitzer. „Wir sind nicht Gott in Frankreich, und die Leute hier geben selten mehr als einen Franc. Das sind eben bloß mal grade 33 Pfennig.“
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