„Heute sagen die Leute: Es ist genug“

Im Irak entwickelt sich eine noch zaghafte, öffentliche Debatte über die Demokratisierung des Landes/ Doch die Angst in der Bevölkerung sitzt tief, der alte Machtapparat ist intakt/ Zudem sind politische Alternativen zur Baath-Partei nicht in Sicht  ■ Aus Bagdad Kristoph Kandet

Für den irakischen Journalisten Khadem Safwan (Name geändert) sitzt die Zensurbehörde neuerdings in der eigenen Wohnung: sie besteht aus seiner Frau und seiner Tochter. Seit dem 15. März, als der irakische Präsident eine umfassende Demokratisierung im Lande ankündigte, hat Khadem angefangen, Artikel über die Korruption der Regierung und der Bürokratie und gegen die Allgegenwart des irakischen Geheimdienstes zu schreiben. Kurz: Er hat Saddam Hussein beim Wort genommen. Schließlich rangierten Presse- und Meinungsfreiheit auf der Liste der angekündigten Reformen ganz oben. Und er wollte das Projekt „Demokratisierung des Irak“ als Journalist unterstützen. Jetzt hat er Ärger mit Frau und Tochter: „Sie lasen die Manuskripte meiner Artikel und waren furchtbar erschrocken. So etwas kannst du nicht schreiben“, sagten sie mir, „sie werden dich festnehmen und umbringen.“ Khadems Familienmitglieder wissen, wovon sie sprechen. Wie die meisten Iraker vertrauen sie nicht auf die angekündigte neue Politik der Regierung. Es sind doch die gleichen Leute wie früher, heißt es, warum sollten sie sich geändert haben. Und der Geheimdienst ist nicht entmachtet.

Khadem hat seither acht Artikel geschrieben. Nur zwei davon wurden veröffentlicht. „Vielleicht hat mein Chef Angst um seine Zukunft“, sagt Khadem dazu, „ich habe mir das abgewöhnt.“ Woher nimmt Khadem den Mut? „Von der Straße“, gibt er mir zur Antwort, „alle Leute fangen jetzt an, offen und in der Öffentlichkeit zu reden und das Regime zu kritisieren. In dieser Hinsicht hat sich wirklich vieles geändert.“

Zum erstenmal seit 20 Jahren werden, wenn auch vereinzelt, Artikel in den irakischen Zeitungen veröffentlicht, die — vorsichtige — Kritik am Regime äußern und für eine Demokratisierung des Landes eintreten. Sogar die Vereinigung der irakischen Journalisten, die immerhin 2.000 Mitglieder hat, trat öffentlich gegen die Pressezensur auf. Die erste Gegenreaktion stammte aus der Feder von Saddam Husseins Ältestem, Oudai Hussein, der vor ein paar Monaten die erste „nichtoffizielle“ Zeitung, 'Babil‘, gründen durfte: Er warf den Journalisten „Vergiftung“ der Gesellschaft vor. „Sie sind wie Schlangen, die ihr Gift in den Körper der Gesellschaft spritzen.“ Weitere Artikel in anderen Zeitungen folgten: „Brot ist für das Volk wichtiger als Demokratie“, „Demokratie wird zum Chaos führen“, „der Wiederaufbau des Landes geht vor“, so der Tenor der amtlichen Presse. Ein — bislang unentschiedener — Meinungsstreit und eine Sensation nach 20 Jahren Unterdrückung jeder öffentlichen Diskussion.

„Natürlich betrachtet ein Großteil der Elite um Saddam Hussein und innerhalb der Baath-Partei die Demokratie als Gefahr. Die Diktatur ist für sie eine Quelle des Reichtums. Sie besitzen Landgüter, Villen und große Autos. Jetzt müssen sie fürchten, gefragt zu werden, woher ihr Wohlstand eigentlich kommt“, sagt mir Abu Saleh, ein alter Baathist, Mitstreiter des Parteigründers Michel Aflak. Seit Jahren lehnt er alle möglichen Angebote ab, hohe Partei- und Regierungsposten einzunehmen. Er sitzt zu Hause, liest und kümmert sich um seinen Garten. „Diese Baath-Partei ist nicht die Partei, die wir gründen wollten. Unsere Parolen waren Einheit, Freiheit und Sozialismus. Und was haben wir heute von alledem? Nichts.“

Saddams Husseins Regime zielte darauf ab, die irakische Gesellschaft zu „baathisieren“. Die meisten Beamten, Offiziere und Gewerkschaftsfunktionäre sind Parteimitglieder. Baathist zu sein, wurde zur Voraussetzung für Karriere und Macht; auch an den Universitäten. Ein studentisches Mitglied der Partei hat mehr Macht als der Professor, der nicht in der Partei ist. Für Abu Saleh ist eine tiefgreifende Änderung des Systems erforderlich. Das denken er und andere nicht erst seit Ende des Golfkrieges. Aber seither ist die Stimmung in der Bevölkerung so explosiv, daß eine öffentliche Debatte darüber nicht mehr ohne weiteres zu unterdrücken war.

Schon nach dem Ende des Krieges gegen den Iran 1988 ahnte auch das Regime in Bagdad, daß es sich auf eine tiefgreifende Änderung würde einstellen müssen. Die Wirtschaftslage war schon damals katastrophal. Zu jener Zeit befürwortete ein relativ starker Flügel der Partei begrenzte demokratische Reformen von oben, um die Lage zu stabilisieren. Saadun Hamadi, der heutige Premierminister, und Tarik Asis, der ehemalige Außenminister, waren wichtige Mitglieder dieser Gruppierung, der enge Mitarbeiter von Saddam Hussein und ehemalige Informationsminister, Latif Jassem, war einer ihrer scharfen Gegner. Saddam Hussein war für die „Reformen“, vorausgesetzt, seine Macht würde nicht beschnitten. Damals begann eine Diskussion über die Verfassung. Ein Entwurf für eine neue Verfassung wurde zwei Tage vor der irakischen Besetzung von Kuwait in den Zeitungen publiziert. Die Reformdiskussion wurde auf Eis gelegt, und womöglich erschien der Krieg Saddam Hussein als die günstigere Lösung der Krise. Die jüngst von der Regierung vorgeschlagenen Veränderungen wie die Auflösung des „Revolutionären Kommandorates“, an dessen Stelle eine Art Oberhaus treten soll, über Presse- und Meinungsfreiheit und Parlamentswahlen und ein Mehrparteiensystem ist insofern eine Fortsetzung der „Vorkriegs“- oder besser „Zwischenkriegsdiskussion“. Die Regierung mußte die Initiative ergreifen, weil der innerirakische Krieg nach dem Golfkrieg sehr klar gezeigt hat, daß die politischen Institutionen gelähmt und weitgehend machtlos den Aufständen im Norden und im Süden zusehen mußten. „Die Einheit des Irak verdanken wir nur den Republikanischen Garden“, lautet die Interpretation dieses Problems durch einen irakischen Politiker.

Es wird eine unter den Irakern voller Mißtrauen betrachtete begrenzte Reform von oben bleiben, die letztlich dem Machterhalt der Baath-Partei dient, solange es keine anderen politischen Organisationen gibt, die glaubwürdige politische Alternativen zur gegenwärtigen Politik der Baath-Partei vertreten können. Doch die Gründung neuer Parteien ist eine langwierige und komplizierte Angelegenheit. Lediglich im kurdischen Teil des Irak gibt es solche Gruppierungen. Über die Verhandlungen zwischen den kurdischen Organisationen und der irakischen Regierung hat sich die übrige, ohnehin schwache irakische Opposition bereits gespalten. „Warum ist Saddam an der Macht geblieben?“ habe ich viele Leute in Bagdad gefragt. „Ganz einfach“, sagte mir zum Beispiel ein irakischer Intellektueller, „weil wir bis jetzt keine Alternative haben. Viele Leute haben Angst vor dem Zerfall des Irak, vor einer nationalen und religiösen Spaltung des Landes, zwischen Sunniten und Schiiten, Kurden und Arabern, und so weiter. Die Erfahrung der bewaffneten Unruhen im Norden und Süden und ihrer Niederschlagung waren für alle ein tiefer Schock. Ohne einen funktionierenden Staatsapparat können wir das Land nicht wiederaufbauen.“ Und diesen Apparat kontrolliert nach wie vor Saddam Hussein.