Schluckt der Verkehrsmoloch die Großstadt?

■ Die dritte Runde des »Stadtforums« diskutierte zukünftige Verkehrskonzepte/ Planer sprechen über »Optimierungen«, »Raumaggregate« und »Zentrumstransitwege«/ Integrative Konzepte und ökologische Untersuchungen waren Mangelware

»Aus Gründen der Stadtkultur sollten wir alles tun, um das Verkehrsproblem nicht zu einem Moloch anwachsen zu lassen, um dann in einer Gigantomanie zu enden.« Hans C. Müller, Architekt und Mitglied der Lenkungsgruppe im Berliner »Stadtforum«, assoziierte nicht zu Unrecht die Metapher aus Fritz Langs Zukunftsvision Metropolis. Sie gilt als klassisches Schreckenssymbol einer Großstadt, in der der Verkehr in immer schnellerem Rhythmus die Bewohner unter sein rasantes Tempo zwingt.

Heute, fast siebzig Jahre nach der Uraufführung des Films in Berlin, erinnert man sich manchmal an den stampfenden Zeittakt von Zugmaschinen und Automobilen, wenn Verkehrsplaner über sogenannte »Optimierungen« im Straßenverkehr, über »Raumaggregate« oder »Zentrumstransitwege« reden — so geschehen auf der dritten Runde des Berliner »Stadtforums« zum Thema »Verkehrskonzepte« am vergangenen Wochenende. Radikal würde der Stadtgrundriß Berlins zerrissen, wenn unmaßstäbliche Verkehrskonzepte, wie riesige Bahnanlagen im Zentralen Bereich, Untertunnelungen des Tiergartens und der Ausbau von innerstädtischen Haupt- und Umgehungsstraßen, in naher Zukunft Wirklichkeit würden. Die verkehrstechnischen Megastrukturen, bedingt durch wachsende Mobilität von immer mehr Menschen in immer mehr Verkehrsmitteln, brächen ein in ein historisch entwickeltes und baulich differenziertes Stadtgefüge. Lebensbeziehungen in den Bezirken gingen verloren, wenn, wie der Reichsbahner Peter Münchschwander schätzte, im Jahre 2000 über 200 Zugpaare täglich die Reisenden an einem Punkt in die Stadt entließen. Die Urbanität in der Stadt würde zerstört bei einem angenommenen Zuwachs des Verkehrsaufkommens um 100 Prozent, so die Prognosen des Verkehrsplaners Christian Lotze. Deshalb warnte der Bonner Bauökonom Ulrich Pfeiffer vor einer Technikgläubigkeit, die allein im Stadtverkehrsmanagement die Lösungen sucht: »Jeder Fernbahnhof ist eine Schluck- und Spuckeinrichtung« von Menschen, Gütern und Verkehren, die für das Quartier immense Umformungen mit sich brächte. Die Probleme müssen darum über den Tellerrand der eigenen betrieblichen Interessen hinaus bewältigt werden.

Günther Hoffmann, Verkehrsplaner der TU, plädierte in seinem Gutachten für einen Ausbau der Straßenverkehrssysteme. Seine Überlegungen zur Straßenplanung im Zentralen Bereich erinnerten jedoch an die Konzepte der sechziger Jahre. Um dem Durchgangsverkehr zwischen Potsdamer/Leipziger Platz bis zum Alexanderplatz zu vermindern, meinte Hoffmann, sei die »Ringfunktion der städtischen Hauptstraßen deutlich zu stärken«: Die Kanaluferstraßen über die Oberbaumbrücke, die Dimitroffstraße über die Invaliden- und Entlastungsstraße könnten diesen »Ring« bilden. Gleichzeitig sei der Bau eines Tunnels in Nord-Süd-Richtung unter dem Tiergarten zu prüfen — ungeachtet der Frage, wo die Anknüpfungspunkte für die Zufahrer des Potsdamer/Leipziger Platzes lägen— um dem täglichen Stau dort beizukommen. Schließlich regte Hoffmann »innerhalb dieses Rings« als Hauptstraßen die Straße des 17. Juni mit enger Umfahrung des Brandenburger Tores, die Leipziger Straße und eine Straße nördlich des Reichstags an, damit Zugänge zum östlichen Stadtteil geöffnet würden.

Im Unterschied zu Hoffmann forderte Volker Sparmann, Senatsverwaltung Verkehr und Betriebe, eine deutliche »Bevorrechtung des öffentlichen Nahverkehrs, des Wirtschaftsverkehrs und des Anwohnerverkehrs mit Einführung ordnungspolitischer Maßnahmen«. Nach Sparmann seien nicht künstlich geschaffene Knotenpunkte, sondern die »traditionellen Funktionen von Wohnen und Arbeiten in enger Nachbarschaft« zu stärken und der öffentliche Verkehr darauf abzustimmen. U- und S-Bahn-Netz müßten dort zu einem attraktiven Verkehrssystem weiterentwickelt werden — eine Forderung, die BVG-Direktor Lorenzen unterstützte, indem er eine »integrale Netzgestaltung« aller Verkehrssysteme wünschte.

Für die verkehrstechnische Entwicklung der Stadt entwarf Sparmann ein Szenarium, das nicht im Zentrum, sondern entlang des peripheren S-Bahn-Rings, in Subzentren Ost-Berlins und entlang der radial einmündenden Achsen »leistungsfähige« dezentrale Entwicklungspotentiale aufspürte, die es zu verbinden gelte. Auch könnte dort ein System von »Park & Ride«-Anlagen zur Verbesserung des Übergangs des Individualverkehrs auf den ÖPNV stattfinden — eine Vision, die städtebauliche Prämissen außer Acht läßt. Im Unterschied zum Zentralbahnhof, den die »Deutsche Eisenbahn Consult« vorschlug, sieht Sparmann den neuen Hauptbahnhof nicht im Zentrum der Stadt, sondern am südlichen S-Bahn-Ring. Dort könnten die erforderlichen Schnittpunkte für Fernreisende, Umsteigemöglichkeiten in die Region und Haltepunkte der U-und S-Bahn-Linien sein. Sparmanns dezentrale Vorstellungen fielen, gemeinsam mit der Forderung der »Bürgerinitiative Westtangente«, die für eine Bevorzugung des ÖPNV inklusive des Ausbaus von U-, S- und Trambahn eintritt, als integratives Konzept aus einem Wust von spezifisch technisch eingeengten Betrachtungsweisen im »Stadtforum« heraus. Integrative Lösungen des zukünftigen Verkehrs waren auf dem Hearing nicht nur Mangelware, sie wurden von vielen Referenten schlichtweg ignoriert. Ökologische Untersuchungen etwa zur Bedrohung des Tiergartens durch einen Zentralbahnhof fehlten. Welche sozialen Auswirkungen mögliche Verkehrskonzepte, wie breitere Bahntrassen oder Überbauungen, für Anwohner, ja, für ganze Stadtteile haben könnten, blieb Geheimnis, ebenso wie pragmatische Zwischenlösungen zur Verbesserung des öffentlichen Nahverkehrs fehlten.

Die wenigen wertvollen Stadträume schließlich, die Berlin in seiner Mitte besitzt, Lennés Tiergarten und die wunderbare Figur des Humboldthafens, das Brandenburger Tor am Pariser Platz und die Straße Unter den Linden, den Spreebogen und das neue Grün entlang des einstigen Mauerstreifens, dürfen einer neuen Verkehrskonzeption wie Kreuzungsbahnhöfen nicht geopfert werden. Sie bilden stadträumliche Erinnerungspotentiale, die ebenso wie die Fernbahntrasse von West- nach Ost-Berlin mit ihren vielen über die Stadt verteilten Haltepunkten physische wie psychische Erlebnisräume sind, die bis dato zur Identität unserer Stadt, jener »Stadtkultur«, von der Müller anfangs sprach, gehören. Sie müssen bewahrt, saniert und weiter genutzt werden. Nur mit ihnen funktioniert ein Verkehrskonzept. Unterirdisch in Berlin ankommen ist undenkbar! Vom »Stadtforum« ist ein erster Abschied zu vermelden: Der amerikanische Kunsthistoriker Kurt Forster (Los Angeles) beendigte seine Tätigkeiten in der sogenannten Lenkungsgruppe. Forster begründete seinen Schritt damit, daß die Arbeit für das »Stadtforum« ihn zuviel Zeit kosten würde. Mit Forster verliert das »Stadtforum« einen Kritiker historisierender Stadtkonzepte. Rolf R. Lautenschläger