Todesdatum unbekannt

■ Zur Wilhelm-Morgner-Retrospektive in Münster

Der Leichnam des Malers wurde niemals gefunden — allein aus den Berichten Überlebender ließ sich rekonstruieren, daß der Soldat Wilhelm Morgner wahrscheinlich in den Morgenstunden des 16.August 1917 bei dem Versuch ums Leben kam, sich an der deutschen Westfront der Gefangennahme durch englische Truppen zu widersetzen. Als Todesort gilt der Laufgraben der „Wilhelm-Stellung“ am Rande eines kleinen Wäldchens, rund 900 Meter nördlich der belgischen Ortschaft Langemarck. Eine Bergung der Leiche war unmöglich: Innerhalb kürzester Zeit hatte Granateneinschlag das Gelände fast vollständig umgepflügt. Bis heute wird bei Straßenbauarbeiten dann und wann noch ein Skelett gefunden. „Vermißt im August 1917 in der Schlacht bei Langemarck (Westflandern)“ gibt Kindlers Malerei-Lexikon als Standardwerk noch heute als indefinites Todesdatum an. Wer nicht eindeutig als tot identifiziert wurde, darf auch nicht gestorben sein — allenfalls vermißt.

Der Erste Weltkrieg kostete viele junge Maler der damaligen deutschen Kunstavantgarde das Leben. Macke starb im November 1914 in der Champagne, Weisgerber ein halbes Jahr später in Fromelles, 1916 kam Marc vor Verdun um, Lehmbruck beging im März 1919 auch deshalb Selbstmord, weil er nicht fertig wurde mit dem, was er als Sanitäter in den Lazaretten erlebt hatte. Die merkwürdige Faszination, die der Erste Weltkrieg auf diese junge Künstlergeneration ausgeübt zu haben scheint — vor allem ihre Briefe belegen dies deutlich —, ist bis heute in der Kunstgeschichte nahezu unerforscht. Mit dem Leben und Werk Wilhelm Morgners allerdings, der nach seinem Tod bis heute nicht annähernd die Popularität eines Marc, Macke oder Lehmbruck erreichte und weitgehend unbekannt blieb, setzt sich jetzt anläßlich seines 100.Geburtstages eine großangelegte Retrospektive im Westfälischen Landesmuseum Münster auseinander. Sie will vor allem die Vielseitigkeit und Eigenständigkeit des Malers, Zeichners und Grafikers dokumentieren. Die Ausstellung, die im Juli vom Wilhelm-Morgner-Haus in Soest und im November vom Lenbachhaus in München übernommen werden wird, präsentiert auf zwei Etagen rund 100 Ölgemälde und 200 Zeichnungen und druckgrafische Arbeiten. Vor allem einige Ölgemälde werden dabei zum ersten Mal überhaupt öffentlich ausgestellt, nachdem sie in den letzten Jahren rekonstruiert werden konnten.

Wilhelm Morgner gehörte keiner künstlerischen Schule an. 1891 im westfälischen Soest als Sohn eines Militärmusikers und einer dichtenden Hausfrau geboren, begann er schon als 13jähriger Schüler, vor allem seine Lehrer zu zeichnen. Die Karikaturen verkaufte er für zehn Pfennige. 1908 beschließt Morgner, Künstler zu werden. Während einer dreimonatigen Ausbildung bei Georg Tappert in Worpswede lernt er die technischen und handwerklichen Grundbegriffe des Malens, um sich anschließend sein Atelier in Soest einzurichten und fortan weiter als Autodidakt von seiner Kunst zu leben. Im für ihn entscheidenden Jahr 1912 stellt Morgner neben Vincent van Gogh, Paul Gaugin und Paul Cézanne ein Bild in der Kölner Sonderbund-Ausstellung aus. Herwarth Walden veröffentlicht in seiner Avantgarde-Zeitschrift 'Der Sturm‘ verschiedene Holz- und Linolschnitte, bei der zweiten Ausstellung des „Blauen Reiters“ in der Kunsthandlung Goltz in München ist Wilhelm Morgner mit 20 Zeichnungen vertreten. Schon bei der ersten Präsentation der Künstlergruppe um Franz Marc und Wassily Kandinsky war Morgner mit der Zeichnung Der Ziegelbäcker vertreten gewesen. Mit Marc verbindet ihn vor allem die Vorliebe für das Thema „Mensch und Tier in der Natur“.

Morgners großformatige Zeichnung des Ziegelbäckers belegt vielleicht am besten seine Bedeutung für die moderne Kunst in Deutschland, als deren Vertreter Wilhelm Morgner immer noch viel zuwenig verstanden wird. Sie manifestiert sich in gleichem Maße in seinen Ölbildern. Ausgehend von eher traditionellen Motiven seiner westfälischen Heimat (Lehmarbeiter, Kartoffelernte, Holzarbeiter, Steinhauer) findet Morgner nach gegenständlich-realistischen Anfängen schon bald zu einer Farb- und Formensprache, die sich zunächst an den von ihm bewunderten van Gogh anlehnt, bald aber den Schritt zur Abstraktion wagt. In der Farbzusammenstellung, die auf van Goghs Theorie von den Komplementärkontrasten gründet, vor allem aber in der Reduktion von Farbe und Raum durch die rhythmische Reihung von Linienschwüngen in den Zeichnungen und in den Ornamentalen Kompositionen von 1912 nimmt Morgner vor dem Ersten Weltkrieg schon vorweg, was der New Yorker Graffitti-Künstler Keith Haring in den achtziger Jahren vollenden sollte. Der Schritt zur ornamentalen Gestaltung des Gegenständlichen, von der Abbildung zur Abstraktion ist auch in Deutschland vollzogen.

Die fehlende Anerkennung in der Heimat löst bei Morgner um 1913 eine schwere psychische Krise aus. Der Maler glaubt, mit seiner abstrakten Kunst nicht weiterzukommen, und kehrt schließlich resigniert zur Gegenständlichkeit zurück — mit christlicher Ikonographie. Sich selbst vergleicht Morgner in Bildern und Briefen mit dem leidenden Christus. Noch im selben Jahr wird Morgner zum Kriegsdienst einberufen, er stirbt im Alter von 26 Jahren.

In den Resten des Schützengrabens wurde immerhin Morgners Gepäck gefunden. Im Tornister steckte eine leere Konservendose; in deren Zinnblech hatte der Künstler mit einer kleinen Nadel sein letztes Werk radiert. Georg Tappert zog von der provisorischen Druckplatte postum 25 Abzüge ab. Sie zeigen eine filigrane Kreuzigungsszene in der Tradition der großen deutschen Kalvarienberge aus dem 15.Jahrhundert. Im Mittelpunkt steht hier allerdings nicht der gekreuzigte Christus, sondern das genau in der Bildmitte befindliche leere Kreuz eines der beiden Schächer. Der Mann selbst, in dem Morgner ohne Zweifel sich selbst darstellte, wird im Bildvordergrund von einem Uniformierten ausgepeitscht und windet sich vor Schmerz: sinnloses Leiden vor dem sicheren und ebenso perversen und sinnlosen Tod.

Wilhelm Morgner — Gemälde, Zeichnungen, Druckgrafik. Westfälisches Landesmuseum Münster, Domplatz 10, bis 30.6., danach Wilhelm-Morgner-Haus Soest, 7.7. bis 15.9., Städtische Galerie im Lenbachhaus, München, 20.11.91 bis 19.1.92. Der Katalog hat 290 Seiten, 60 Farb- und 100 Schwarzweißabb. und kostet 35 DM, Verlag Gerd Hatje, Stuttgart. Stefan Koldehoff