Nepal wählt zwischen Baum, Sonne, Kuh und Pflug

■ Gestern fanden im Himalaya-Staat die ersten freien Wahlen seit 32 Jahren statt/ Neben der Kongreßpartei und den Marxisten-Leninisten, die die Übergangsregierung bilden, kandidieren auch zwei Parteien des alten Ständesystems

Katmandu (ap/afp) — Mit einem Massenandrang zur ersten freien Parlamentswahl seit mehr als 32 Jahren haben die Bürger Nepals am Sonntag die Rückkehr zur Demokratie gefeiert. Bereits zwei Stunden vor Öffnung der Wahllokale bildeten sich in der Hauptstadt Katmandu Warteschlangen bis zu einem Kilometer Länge.

Im vergangenen Jahr hatte König Birendra nach tagelangen Demonstrationen und Unruhen das 1961 von seinem Vater erlassene Parteienverbot aufgehoben. Im April 1990 bildeten die Kongreßpartei (NC) von Ministerpräsident Krishna Prasad Bhattarai und das Linksbündnis Vereinigte Marxisten-Leninisten (UML) gemeinsam eine Übergangsregierung. Die von ihr vorgenommene Verfassungsreform beschränkte die Kompetenzen des Königs auf die Befugnisse des Staatsoberhaupts in einer konstitutionellen Monarchie.

Es wird erwartet, daß die Kongreßpartei als Motor der Revolution im vergangenen Jahr, die dem Absolutismus ein Ende setzte, wie schon 1959 die meisten Stimmen erhalten wird. Doch wird sie vermutlich die absolute Mehrheit der 205 Sitze verfehlen und auf einen Koalitionspartner angewiesen sein. Zu ihren Hauptkonkurrenten gehören neben der UML auch die beiden Bewegungen, die von den alten Politikern des Systems der Panchayat (lokale Ständeversammlungen) initiiert wurden. Dieses System, unter dem politische Parteien verboten waren, war im letzten Jahr nach blutigen Volksaufständen abgeschafft worden, bei denen 500 Menschen ums Leben kamen. Dennoch ist damit zu rechnen, daß die Panchayat-Bewegungen in den 4.000 Ortschaften des Landes, wo viele Menschen des Lesens nicht kundig sind, auch in der konstitutionellen Monarchie einen gewissen Rückhalt finden.

In der Hauptstadt Katmandu am Fuße der Himalaya-Kette sind alle erreichbaren Wände und Mauern, auch die der Hindu-Tempel und Paläste, mit den Symbolen der Rivalen gepflastert: ein Baum für den Kongreß, die rote Sonne der Kommunisten, eine Kuh und ein Pflug für die konkurrierenden Nationaldemokraten der Panchayat. Für eines dieser Symbole müssen sich die 11,1 Millionen Wahlberechtigten entscheiden, um die 205 Mandatsträger zu bestimmen, wofür 1.345 Bewerber aus 20 Parteien kandidieren.

„Ich habe 27 (der 75) Landesdistrikte besucht und überall festgestellt, daß das Volk Stabilität, Demokratie und ein Ende der Streitigkeiten wünscht“, konstatierte Ministerpräsident Khrisna Prasad Bhattarai Mitte der Woche auf einer Wahlkundgebung im Zentrum der Hauptstadt. Mehrere zenhntausend Menschen nahmen an dieser Veranstaltung teil, die ohne sichtbare Sicherheitsmaßnahmen auskam und einem großen Volksfest glich. Bhattarai leitet ein Kabinett, dem auch drei Kommunisten angehören und das im April 1990 von König Birendra unter dem Druck der Massen eingesetzt wurde, um eine neue Verfassung zu erarbeiten und freie Wahlen vorzubereiten. Im Privatgespräch kaschiert der 66jährige Junggeselle nicht, daß er die Querelen mit den Kommunisten leid ist, die die Regierungsarbeit begleiteten.

Die Kommunisten seien demokratiefeindliche „Kriminelle“, ruft Kongreß-Führer Ganesh Man Singh auf der gleichen Wahlveranstaltung in die Menge. Beschuldigungen und gegenseitige Verfemungen waren wichtigster Bestandteil des Wahlkampfes. Die Kongreßpartei polemisiert gegen die Kommunistenführer, diese hätten ein gespicktes Vorstrafenregister, verbreiteten Slogans statt politischer Konzepte und predigten eine überholte Ideologie, die gerade im Rest der Welt ausgedient habe. Den Wählern verspricht der Kongreß kostenlose Grundschulausbildung für alle, ein umfassendes Trinkwassernetz innerhalb von zehn Jahren, die Beseitigung jeglicher Armut in 15 Jahren und die Fortführung der Sonderbeziehungen zu Indien.

Die Kommunisten beschuldigen ihrerseits die Kongreßpartei, diese wolle Nepal an Indien verkaufen. Auch die galloppierende Inflation der letzten Monate kreiden sie dem Kongreß an. „Das, was in der Sowjetunion und in China passiert, interessiert uns nicht. Wir wollen unseren eigenen Sozialismus, eine radikale Umwandlung der Gesellschaft“, erläutert Sahana Pradhan, Vorsitzende der Marxisten-Leninisten in der Vereinigten Front und Ministerin für Handel und Industrie. Die Kommunisten wollen mittels einer Agrarreform das Land denen geben, die es bebauen. Die Industrie soll nicht verstaatlicht, aber vom Staat stärker kontrolliert werden, erklärt die Politikerin. Die mit Indien abgeschlossenen Freundschaftsverträge sowie die Abkommen über die gemeinsame Nutzung der Grenzflüsse müßten aufgekündigt werden, da sie „ungleich“ seien.

Die beiden nationaldemokratischen Parteien beklagen, daß es seit dem Machtwechsel in Nepal keine Disziplin und Sicherheit mehr gebe. Das findet vor allem bei den Händlern und Kaufleuten in Katmandu Gehör. Die Panchayat-Bewegungen führten einen eher unauffälligen Wahlkampf. Ihre Rivalen machen sie für mehrere gegen sie gerichtete Gewaltakte verantwortlich. Nach Angaben eines ihrer Führer, des früheren Regierungschefs Surya Bahadur Thapa, wurden im Wahlkampf 40 Menschen getötet. Dem widerspricht Innenminister Yog Prasad Upadhyay, der die Zahl von fünf Toten nennt. Allerdings, so räumt er ein, verhindere die allgemeine Erregung momentan normale politische Abläufe. Die Stimmabgabe werde dennoch korrekt verlaufen und das Ergebnis unanfechtbar sein.