Halle ist überall

■ Kanzler läßt sich von LPG-Eiern nicht einschüchtern

„Klatsch, klatsch — das saß!“ sprach Burdas 'Super‘ Millionen Ostdeutschen aus dem Herzen. „Millionen Deutsche sind empört“, berichtete Springers 'Bild am Sonntag‘ aus westdeutschen Wohnstuben. „Ein Riß geht durch Deutschland“, analysierte die 'Zeit‘ — wie immer — allzu feinfühlig. Denn die Eierwürfe auf Helmut Kohl in Genschers sächsischer Geburtsstadt zeigen, daß der Kampf zwischen Ost und West jetzt erst richtig losgeht. Bonn ist nicht Weimar, Bonn ist Halle. Und Halle ist überall.

Alle volkstherapeutischen Talkshows und harmoniesüchtigen Expertenrunden konnten nicht darüber hinwegtäuschen, daß die große Katharsis noch bevorsteht. Vor sie aber hat das Schicksal Konflikt, Gewalt und Leidenschaft gesetzt. Lebe wild und gefährlich, so lautet nicht zufällig der programmatische Titel des jüngsten Werkes von Jutta „Jeanne d'Arc“ Ditfurth. Tempora mutantur et nos in illis. Während in Frankfurt am Main die „ökologische Linke“ zum Schlag gegen die „Feudalherrschaft“ alternder grüner Spontifürsten aufrief, erwies sich der Beinahe-Treffer auf Kanzler Helmut Kohls pfälzische Rechte als Signatur des Beginns einer neuen historischen Phase. Die Zeichen stehen auf Sturm und Bitterfeld, auf direkte Aktion und radikale Selbstverwirklichung. Die Sicherheitsbeamten, die Helmut Kohl nur mit Mühe davon abhalten konnten, sein Recht auf Widerstand in die eigenen Fäuste zu nehmen, haben das noch nicht begriffen und mußten sich darob vom Kanzler der Feigheit zeihen lassen.

Auch die SPD hinkt hinterher. Zwar hat — will man 'Bild‘ Glauben schenken — der 21jährige Juso-Vorsitzende in Halle einen kompletten Karton Ex-LPG-Eier tapfer auf den Kanzler gefeuert, nichtsdestotrotz hält die westdeutsche Sozialdemokratie bis in die Tiefen des pfälzischen Unterbezirks Ahrweiler strikt am Pazifismus fest und lehnt selbst Blauhelmeinsätze deutscher Soldaten unter UNO-Kommando ab.

Dabei zeigt doch gerade die westdeutsche Geschichte seit 1967/68, daß es ohne die Dialektik der Straßenschlacht keinen dauerhaften Frieden geben kann. Lange her, daß ein sozialdemokratischer Ministerpräsident in Hessen wenigstens verbal mit der Dachlatte drohte. Heute fahren die pfeifeschmauchenden Enkel in die Toskana, um sich von ihren Pressekonferenzen zu erholen. Nein, so kann die „innere Einheit Deutschlands“ nicht errungen werden. Helmut Kohls Entscheidung für Berlin als Hauptstadt weist in die richtige Richtung. In der Frage „Autonomie oder Getto?“ hat er sich für die Kämpfe der Zukunft entschieden. Reinhard Mohr