In der Deutschstunde gibt's türkische Literatur

■ Schöneberger Robert-Blum-Gymnasium lädt türkischen Schriftsteller zum Deutschunterricht ein/ Neues Projekt der Schöneberger Ausländerbeauftragten will damit ein differenziertes Bild der Gesellschaften im Nahen Osten vermitteln/ Demirbüken: »Türkische Kultur ist nicht nur Kebab und Folklore«

Schöneberg. Wenn die Schweizer Autoren Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt im Deutschunterricht behandelt werden, warum dann nicht auch die deutschsprachige Literatur von türkischen SchriftstellerInnen, die seit langem Teil unserer Gesellschaft sind? Warum nicht einmal ein deutsches Barockgedicht mit einem türkischen Barockgedicht vergleichen?

Am Robert-Blum-Gymnasium ist das seit gestern — zumindest ansatzweise — Realität. So gestaltete gestern der türkische Schriftsteller Zafer Senocak zum ersten Mal den Deutschunterricht einer elften Klasse am Schöneberger Robert- Blum-Gymnasium und startete damit das »Pilotprojekt« der Schöneberger Ausländerbeauftragten Emine Demirbüken: »Die Schüler sollen darüber informiert werden, daß die türkische Kultur eine sehr reichhaltige ist, und daß sie nicht nur aus Döner Kebab und Folklore besteht«, erklärt Demirbüken, selber Türkin der sogenannten »zweiten Generation« in Berlin.

Senocak wurde in Ankara geboren, zog nach Beendigung der ersten Klasse mit seinen Eltern nach München und lebt seit zwei Jahren in Berlin. Seine literarischen Werke und Essays schreibt er auf deutsch. Mit leichtem süddeutschem Akzent las er den SchülerInnen einige seiner Texte vor: eine Erzählung, Gedichte, ein Essay über die Berichterstattung im Golfkrieg. Die Thematik seiner Werke ist nicht unbedingt auf die Türkei bezogen. Er beschreibt zwar Bilder aus seinem Leben und verarbeitet Erinnerungen an seine Kindheit, doch ist der Ort der Handlung unwichtig für den Inhalt. Schwerpunkte seiner Diskussionsbeiträge sind die sich von alters her festsetzenden Klischee der Europäer vom »Orient« und seiner Kultur.

Nie hätten die Europäer sich bemüht, die Kulturen des nahen Ostens tatsächlich zu verstehen, sondern sie hätten sich immer nur die Elemente herausgesucht und weitergegeben, die den eigenen Vorstellungen über die »Orientalen« entsprachen. Senocak geht es nicht darum, ein »rosarotes« Bild der türkischen Kultur darzustellen. Es geht ihm einzig darum, dem europäischen einseitigen Bild ein vielseitiges, ein differenzierteres Bild der Gesellschaften des Nahen Ostens zu vermitteln.

Den SchülerInnen schien es völlig egal zu sein, welcher Nationalität ihr neuer »Deutschlehrer« angehörte. Für sie ist der Umgang und das Zusammenleben mit Menschen verschiedener Nationalitäten längst zum Alltag geworden. »30 Prozent der Schüler an unserer Schule sind Ausländer«, verkündet Schulleiter Martin Kraschewski nicht ohne Stolz. Mit verhaltener Neugierde diskutieren die SchülerInnen mit dem Autor über »nationalitätenunabhängige« Themen. Ein Junge, der ab und zu verstohlen an seinem hinter der Schultasche versteckten Kebab knabbert, möchte von Senocak wissen, wie man literarische Texte verstehen kann, wenn man nicht die gleichen Erfahrungen wie die Protagonisten gemacht hat. Ein anderer Junge will wissen, wie und wann Senocak seine Gedichte schreibe - am Schreibtisch nach langem Überlegen oder plötzlich und unerwartet in der U-Bahn. Und weiterhin will er wissen, ob der Schriftsteller nicht auch wie er der Meinung sei, daß man Gedichte gar nicht übersetzten solle, weil sie zu viel von ihrer ursprünglichen Schönheit verlieren würden.

Senocak äußert sich erstaunt über die Selbstverständlichkeit, mit der er empfangen wurde: »Ich hatte mit Aggressivität gerechnet aufgrund meiner türkischen Herkunft.« Für ihn sei die Arbeit an Schulen äußerst wichtig, denn hier gehe es um Jugendliche, die noch nach Anhaltspunkten suchen, und die noch offen seien.

Frau Demirbüken hatte ein Jahr lang mit den Behörden gekämpft, um schließlich Geld für zehn Doppelschulstunden bewilligt zu bekommen. Drei Schöneberger Schulen hatten sich ursprünglich bereiterklärt, Demirbükens Projekt Platz im Stundenplan einzuräumen. Doch als das Geld endlich da war, sprangen zwei Schulen wieder ab. So blieb das Robert-Blum-Gymnasium, das Senocak bis zu den Sommerferien ab und zu den Deutschunterricht überläßt. Schulleiter Martin Kraschewski und Fachbereichsleiter Hartmut Wierskalla wollen auch in Zukunft solchen Projekten mehr Platz im Unterricht einräumen. Die deutschsprachige Literatur türkischer AutorInnen sollte auf Dauer fester Bestandteil des Unterrichts werden. Nadja Encke