Stuck und streichende Geiger

■ „100 Jahre Carnegie Hall in New Nork“, So., 22.00 Uhr, ZDF

Angesichts der Prominenz, die zum hundertsten Geburtstag dieses alten Gemäuers aufgefahren und zitiert wurde, müßte die angemessene Fernsehkritik eigentlich in Form eines Sonetts abgefaßt, oder zumindest in Fraktur gedruckt werden. Ein Wallfahrtsort der schöngeistigen Kultur ist die New Yorker Carnegie Hall. Dort tritt nur das Beste vom Besten auf. Und davon noch einmal das Beste. Kurze Rückblenden streiften die Geschichte. Roosevelt, Twain und Einstein redeten dort. Wir konnten ein paar Takte lang Horrowitz auf die Finger schauen, einen Moment lang Rubinstein lauschen. Duke Ellington paarte sich mit den Beatles; Bach wurde von Rachmaninow erschlagen.

2.500 Dollar kostete jede Eintrittskarte (1891 war es nur 1 Dollar). Der gestiegene Preis erleichtert die Auswahl derjenigen, die drinnen ihre Lauscher aufsperren und zu Placido Domingos Arie frenetisch klatschen durften.

Ehrfurchtsvoll indes fängt die Kamera für uns zu Hause vor dem Fernsehschirm ein, was sie ohnehin nicht vermitteln kann. Stuck und streichende Geiger, in der Großaufnahme dramatisch abgelichtete Frauengestalten, die konzentriert und ekstatisch die Violine bestreichen, als gälte es einen unbekannten Zauber abzuwenden. Im rechteckigen Röhrenausschnitt wirkt die Spasmik des Dirigenten so fremdartig wie ein Plutonium-Arbeiter, der per ferngesteuertem Roboter Brennstäbe auswechselt.

Als auf dem Höhepunkt der Gala sich 2.800 Besucher von 2.800 guten Plätzen erhoben, um gemeinsam in Händels Halleluja einzustimmen, so bekamen wir, die wir ja schließlich auch in der ersten Reihe saßen, akustisch und atmosphärisch nur soviel davon mit, als lauschten wir dem Schunkeldröhnen bei Mainz, wie es singt und lacht.

Die rituelle Feierlichkeit eines derartigen Anlasses kommt jedenfalls überhaupt nicht rüber. Im Gegensatz zu einem Fußballspiel, dessen Dramatik sich wesentlich unkomplexer vermittelt, ist die Übertragung eines klassischen Konzertes eigentlich Betrug am Zuschauer. Wem normalerweise bei Beethovens Egmont-Ouvertüre die Tränen kommen, der wird natürlich nicht gleich abschalten, wenn ihn unterschwellig das dumpfe Gefühl heimsucht, daß da doch irgendwie mehr an Schwingungen da sein müßte.

Das Ganze kommt einem vor wie dieser Witz: Ohne Arme kein Lakritz — oder, anders ausgedrückt: Im Fernsehen kein Beethoven. Und wenn, dann hören wir Beethoven nur ungefähr so, wie der selbst seine Musik zum Schluß gehört hat. Manfred Riepe