Fanal der Brandstifter

Frank Castorf inszeniert „Wilhelm Tell“ nach Schiller in Basel  ■ Von Andrea Köhler

Tell hockt auf der Erde und puhlt Sonnenblumenkerne. Neben ihm sitzt das Walterli und ist auch nicht gerade das, was man sich unter einem kecken Schillerknaben vorstellt. Der Bube, der ein Mädchen ist, wartet pickend auf den Apfelschuß; für den Fall, daß der daneben geht, hat sie gleich zu Anfang eine halbe Ernte auf der Bühne ausgekippt. Der Landvogt tobt; der Schweizer Nationalheld knabbert angelegentlich, als gelte es, doch noch des Pudels Kern aus diesem Text heraus zu klauben. Natürlich ist die Nuß längst taub, der Tell kein Schiller mehr — also ein Vergnügen. Frank Castorf hat in Basel, pünktlich zur 700-Jahr-Feier, wo heuer auch die Kulturschaffenden den Rütli-Schwur geloben sollen, Schillers Wilhelm Tell mit böser Lust zerplückt und gründlich neu montiert.

Die Axt im Haus erspart den Zimmermann: Wenn Tell — statt „auf dieser Bank von Stein“ — im Parkett Platz nimmt, mißmutig dem Geschehen auf der Bühne folgt und türenschlagend aus dem Raum eilt, vollzieht er nur noch nach, was vor ihm schon ein großer Teil des Premierenpublikums getan und Castorf, Skandalnudel aus Leidenschaft und Profession, offenbar erwartet hat. Castorf hat das wuchtige Versmassiv von Schillers Revolutions- und Steilwanddrama aus dem Jahre 1804 aufgesprengt und den Text sehr genau, nämlich wörtlich und auf seine schlimmstmögliche Wendung hin gelesen. Schillers Aufruhr der Schweizer Biedermänner von Uri, Schwyz und Unterwalden, wird in Basel zum Fanal der Brandstifter: schrill und böse, intelligent und spielerisch und ungeheuer komisch.

Die Fetzen fliegen nicht allein bei der Bearbeitung von Schillers Blankversen, sondern auch im Hause Tell, wo der Schweizer Urahn, begabt (laut Schiller) „mit gesunden Sinnen“, seiner Hedwig an die Wäsche geht. Auch die Stauffachers, Gertrud und Werner, haben mit allerlei Gestänge und Gemenge, Geröchel und Gebrüll, das „harmlos' Volk von Hirten“ vorzustellen. Uli von Rudenz ist Fetischist und Stotterer und als falscher Landsmann schon an seinem Hamburger Akzent nicht zu verkennen. Das Fräulein Bertha flötet auf Französisch und nestelt gern am Dekolleté, der Herr von Melchtal ist vermutlich auch nicht ganz bei Trost, und an dem Höhenschwur der Eidgenossenschaft wird solange gerüttelt, bis er als Schüttelvers durchgeht. Johoheidii.

Das Walterli steht fruchtgekrönt ganz vorne an der Rampe, der Vati zielt mit seiner Armbrust fröhlich ins Parkett. Der Mann kann freilich schießen, wie und womit er will. Gessler, einstmals Tyrann, nun Wanderer durch alle Zeiten und Berufe — Michael Wittenborn bewährt sich gar als Philosoph des Mediokren — ist auch mit der Maschinenpistole nicht totzukriegen. Das Gründervolk vom Rütli geriert sich als kopulierende Karnevalsgesellschaft und darf in allen Dialekten jodeln, stottern oder singen (und singen, das hat schon Schiller so gewollt, tun sie ausgiebig und gern).

An Kuhgeläut und Pappmaché im Alpenglühn ist natürlich nicht zu denken, die Milch der frommen Denkungsart ist bekanntlich selbst in den Schweizer Alpen toxisch nicht ganz unbelastet. Hartmut Meyers Bühne gleicht einer Art Steinzeithöhle mit abstrakter Form, sowas wie Sippenhort und Reduit, Gotthardtunnel oder Platons Gleichnishöhle, jedenfalls für alles trefflich zu gebrauchen: Schattenspiele, Apfelschlachten, Hordenrituale und Familienkrach — der Zankapfel, der Hut, thront auf dem, was man in Basel eine „Stange“ nennt, auf einem Humpen Bier. Weil schon im Text nichts mehr an seinem Platz ist, beschränken sich auch Zeit und Raum ganz einfach aufs Theater. Eine schräge Rampe dient der postmodernen Urhorde als Allzweckrequisit, als Wippe, Pendel oder Pfeil und läßt sich auch akustisch jederzeit bespielen. Märchen, Mythos, Parodie, Slapstick, Oper und Klamauk, der Regisseur hat den Tell vom Bann des hochfiegenden Freiheitspathos losgesprochen — hohl ist hier nicht allein mehr nur die legendäre Gasse und „der Boden unter den Tyrannen“, hohl ist längst auch jede Unterscheidung zwischen Machthabern und Rechthabern, frommer Milch und saurer Denkart.

Dieser Tell im Turnanzug zeichnet sich durch nicht viel mehr als durch ein Bärenfell am Oberschenkel aus, doch zieren solche Reste tierischer Vernunft auch die anderen Eidgenossen. Besonderes Merkmal: Schweizer. Und Gessler, der Tyrann unter Habsburgs Banner, beherrscht zwar virtuos die internationale Fratzenschneiderei der Macht, doch ist er eigentlich bloß ein Choleriker, der, Nietzsche oder Zieglers Schweizerschelte auf den Lippen, sich gerade etwas langweilt. Wäre dieser Gessler oder Hinterhuber nicht zufällig auch noch ein Sadist, er könnte es in diesem Stück mit Uli von Rudenz halten: Macht, Freiheit, Tod und Leben? „Is' doch für mich kein Thema!“ Castorfs Thema ist das Mittelmaß und dafür ist ihm jedes Mittel recht, solange es nicht billig ist.

Da wird nämlich nicht einfach auf den Putz gehauen, jeder kleine Gag ist streng kakuliert, ein jedes Wort ist auf grimmigste Bedeutung ausgeleuchtet. Ein Tell für die Schule ist diese Dada-Demontage zwar nicht gerade, doch auch keine bloße Schiller-Gaudi. Kunst und Kalauer, grelle Satire und traumtiefe Sequenzen: das Disparateste fügt der Regisseur zusammen, als wär's aus einem Stück. Es wird auch eins, und zwar ein furioses. Mag auch der Zimmermann das Denkmal nicht verschonen, er führt deshalb noch längst nicht mit Axt Regie. Die Schauspieler wurden bejubelt, der Castorf nahm die ihm zugedachten Buhs und zurückgeschossenen Äpfel aus dem Publikum mit sichtbarer Genugtuung entgegen.

Wilhelm Tell nach Schiller. Regie: Frank Castorf. Bühne: Hartmut Meyer. Mit Berhnhard Schütz, Michael Wittenborn, Jörg Schröder, Marcus Mislin, Gundi Eilert. Theater Basel.