Kleine Fluchten übers Wasser

■ Die Mülltonnen von Reichelt, Bohnenpflanzen auf dem Kubat-Dreieck, Segelyacht auf dem Wannsee — Stationen eines Außenseiters

Also, angefangen hat es mit einer Dose, einer Getränkedose, die ich in der „Neuen Welt“ geklaut hatte und wo mich die Ladensherrifs hinter der Kasse erwischt hatten. Die Dose kostete 69 Pfennige (Orangenlimo). Ich hatte Durst und kein Geld dabei, da ich den Monat ohne Soziknete auskommen wollte. Der Aufstand, den die Bullen darum gemacht haben, war immens angesichts der Tatsache, daß Ladendiebstahl bis 100 DM nicht mehr bestraft werden soll.

Nun gut, dachte ich, nimm es hin, du kannst dich gegen diese Art der Gewalt, die gegen dich ausgeübt wird, nicht wehren: drei Bullen, ein Schlachter, der Abteilungsleiter, ein Detektiv und ein Täter 40 Prozent körperbehindert. Flucht war also nicht drin. Hausverbot hieß es für alle Läden und das, wo doch heutzutage jedes Kind weiß, daß die Preise extra höher kalkuliert sind mit ca. zehn Prozent für solche oder ähnliche Ausfälle. Das Personal nimmt schließlich auch reichlich mit nach Hause, oder? Jahrelang nie was mitgehen lassen und dann sowas gleich beim ersten Mal, als hätten sie mich auf dem Kieker gehabt.

Später habe ich dann eine ganze Weile aus den Mülltonnen von Reichelt und Konsorten gelebt. Die schmeißen sehr viel weg, alles was über das Haltbarkeitsdatum ist und Obst besonders am Wochenende. Aber wehe, die sehen einen dabei. Da drohen sie gleich mit Gewalt oder reißen einem das Zeug aus den Händen.

Das Sozialamt war mir vorher zu dicht mit dem Sozialpädagogischen Dienst (SPD) und einem übereifrigen Abteilungsleiter auf den Pelz gerückt. Die sind wohl der Meinung, daß ich ihr Hund bin. Aber noch bin ich das nicht, jedenfalls nicht in diesem Leben, das kommt später. Ursprünglich sollte meine Soziknete monatlich überwiesen werden, doch dann faßte das Sozialamt den Beschluß, nicht der Entscheidung der Frankfurter zu folgen, ich sollte antanzen alle zwei Wochen. Es gab Coupons (wie ätzend!) und den Abteilungsleiter für Härtefälle.

Damals war ich noch friedlich. Ich ging sogar zum Arbeitsamt, obwohl ich nach einer schweren Nervenlähmung 40 Prozent körperbehindert war und die Arbeitslosen sich in Charlottenburg nur so stapeln und angesichts der Tatsache, daß ich in meinem erlernten Beruf als Werkzeugmacher nicht mehr arbeit kann. Irgendwann hatte ich dann vom Sozialamt und dem dazugehörigen SPD die Schnauze voll, die mir auf die Bude gerückt waren in einer Form, die mehr als helfend war, nämlich belästigend. Der Psychiater Menke kam ohne sein Pendant, den Sozialarbeiter Schmid, vorbei und die Besuche bei denen im Amt waren mehr als ätzend. (Hier im Knast haben die auch so'n Sprungtuch.)

Ich bastelte in der Zeit mit einem Computer herum und eines Tages habe ich in der vornehmen Innenstadt mal ein bißchen rumgebrüllt und wurde daraufhin zum ersten Mal für zwei Wochen in die Psychiatrie eingewiesen. Die Ärzte sagten, daß das nach einer so schweren Nervenlähmung vorkommen kann, das sei von anderen Patienten auch bekannt. Am Ende der zwei Wochen bedurfte es meiner ganzen Kraft und drei überflüssiger Untersuchungen (darunter ein CT, was schon bei Beginn der Nervenlähmung gemacht wurde und extrem teuer ist) um wieder freizukommen.

Nach der Entlassung kehrte ich in meine Bude zurück und vieles veränderte sich teilweise so stark, daß ich es hier nicht ausdrücken mag und kann. In der Zeit kurz vor der Zwangseinweisung hatte ich versucht, auch auf Anraten der Ärzte, eine Rente zu bekommen. Aber es fehlten vier oder fünf Monate an dem Mindestzeitraum der Renteneinzahlung. Der Weg einer freiwilligen Nachzahlung blieb mir versperrt.

Meine Freunde hatten sich schon zu Beginn meiner Nervenlähmung mehr oder weniger von mir verabschiedet in der irrigen Annahme, ich hätte Aids, und meine Beziehung ging kurz nach der Psychiatrie auch noch in die Brüche, mein Freund verabschiedete sich mit den Worten: „Du interessierst mich nicht mehr und ich liebe dich nicht“, von mir. Der Menke hat das dann irgendwie rausgekriegt und hackte mit: „Na, wo ist denn Ihr Freund?“ auf mir herum. Die letzte Aktion mit ihm, natürlich meinem Ex, war dann der Offenbarungseid vorm Amtsgericht Charlottenburg. Meine Mutter hatte mir eine halbe Million Mark Schulden angehängt. Trotz OE mußte der Gerichtsvollzieher natürlich zum fünften Besuch anrücken. Ich lief weg, mir war das zuviel. Er ließ die Tür öffnen. Das Sozialamt wollte, daß ich untervermiete, eine alte Berliner Remise, halb ausgebaut, die Lähmung erwischte mich mittendrin, Beziehung kaputt, angeblich nur drei schöne Tage gemeinsam, na ja, meine Mutter kam und ich landete noch mal für eine Woche in der Psychiatrie. Dann wurde es mir zuviel, ich ging auf eigenen Wunsch. Psychiater verteilen auch nur Drogen, halt legal, und da sauf ich lieber, da weiß ich wenigstens halbwegs was ich zu mir nehme.

Dann kam das Ding mit Reichelt und daß Faß war voll. Ich zog auf den Conni-Platz um irgendetwas zu tun gegen dieses erbarmungslose System und um die Wut ein bißchen gegen Daimler-Benz abzulassen, war nicht schlecht. Beim Kubat war ich auch dabei gewesen. Kurze Zeit danach bekam ich die Lähmung, eventuell eine der netten Nebenwirkungen des CS-Gases. Beweisen kann ich das leider nicht. Auf dem Kubat- Dreieck war ich leider beim Frühstück nicht mehr dabei. Was die Bullen damals abgeballert haben, war 'ne Sauerei. Leider erfinden die Chemiker immer wieder was neues. Auf dem Conni-Platz (Potsdamer Platz) ging es erstmal wieder etwas besser. Kein Staatsterror, no rent für 'nen halbes Tippi. Leider wurden alte Leute vom Kubat-Dreieck wieder vertrieben. Es gab keine einheitlichen Vorstellungen über die konkrete Zukunft bis auf die Gemeinsamkeit, daß Daimler Benz nicht bauen soll, Weinhaus Huth und das alte Esplanade stehenbleiben (woran soll man sich sonst dort orientieren). Irgendjemand spielte Guru am Infotisch und mich darum zu balgen, war mir einfach zuviel. Hab halt ab und zu Unterschriften gesammelt und Bohnen gepflanzt. Was aus der Sache wurde, weiß ich bis heute nicht. Ab und zu war ich in der Zeit auch bei der taz und hab Kaffee und Zeitungen geklaut, sonst hätte ich nie die Adresse für das Knastabo gehabt. Kurz vor dem Massenauflauf von Floyd habe ich das Feld geräumt und bin runter an den Wannsee, meine Seele brauchte Entspannung.

Am Wannsee war es sehr schön und bei all den Booten auf dem Wasser — nun ja, auch ich verspürte mächtig Lust auf so was, und nachdem ich eine Mülltonne (eine halbe Sahnetorte) geplündert hatte, lehnte ich mein Fahrrad an die Mauer einer alten Wannseevilla und verbrachte die Nacht in einem Bootshaus samt der dazugehörigen Yacht. Manchmal gehen Träume in Erfüllung.

Am nächsten Morgen war es dann so weit. Ich war spät aufgewacht. Gegenüber dem Bootshaus auf der anderen Seite des Gewässers waren Bauarbeiten im Gange, die Wasserbullen fuhren in all ihrer Pracht vorbei und mich reizte einfach der Gedanke, an dem Treiben auf dem Wasser teilzunehmen. Gedacht — getan. Ich enthüllte das Boot, bastelte ein wenig an der Zündung, öffnete leise das Gatter und legte dann unter lautem Getöse und per Rückwärtsgang ab. Auf dem Rasen, der sich tief in das Grundstück erstreckte, kam eine Frau wild gestikulierend herabgelaufen. Ich konnte sie nicht verstehen, der Diesel war so laut.

Noch einen Hebel umgelegt und schon fuhr ich den Kanal entlang Richtung Stölpchensee. Die Sonne schien, der Wind wehte ganz leicht und ich fuhr den Tag über die Berliner Seen rauf in den Norden. Zum Glück hatte das Boot nicht nur einen Motor, sondern nachdem ich den Mast gesetzt hatte, auch noch knallrote Segel (der Rote Kosar, unter falscher Flagge — wie lange hatte ich davon geträumt!). An Bord gab es eine alte Karte von der BZ aus den dreißiger Jahren und so tuckerte und segelte ich dann am Löwen, Hilfskrankenhaus Heckeshorn (Verschwendung für den A-Schutz) und am Grunewaldturm vorbei bis in den Norden, bis ich nicht mehr weiterkam: Schleuse und kein Geld, einfach Pech. Nach Norden ging es also nicht. Also drehte ich um und siehe da, die Grenzen, auch zu Wasser, waren gefallen. Es war herrlich. Mir ging es nach langer Zeit endlich mal wieder so gut.

Im Osten sind die Schleusen noch kostenlos, jedenfalls die Kahnschleusen, und ich bin dann die Havel etwa 60 Kilometer runtergefahren bis ich nachts durch einen Manövrierfehler in ein Wehr geriet und das Boot sich unter einer Brücke verklemmt hatte. Flottmachen ging nicht und am nächsten Morgen haben mich die Ostbullen einkassiert, aber nach Erkennungsdienst und Verhör wieder freigelassen. Die dachten, das Schiff gehört mir.

Nun stand ich da, irgendwo im Osten in Brandenburg, ohne Rad, kein Schiff (den Wasserbullen, die das Boot geborgen hatten das Teil wieder abnehmen, ging nicht, zuviel Licht), also weiter mit einem anderen Boot, diesmal aus Polyester mit Außenboarder Marke „Forelle“, mit dem ich in Richtung Elbe weiterfuhr. Alles lief ausgezeichnet, bis ich an die Grenze kam und mich ein DDR- Patrouillenboot stoppen wollte. Da blieb mir nichts anderes übrig: Ich setzte das Boot in den Sand und lief — oh Wunder, dies war das erste Wettrennen, das ich in meinem Leben gewonnen habe — dem Grenzer davon. Ein paar Kilometer weiter fand ich dann die Elbfähre und setzte — natürlich schwarz — über Lauenburg wieder in die BRD über.

Dort in der Nähe habe ich dann eingebrochen und einen Wagen nebst Schlüsseln und Papieren gefunden, mit dem ich dann über Holland und Belgien bis fünf Kilometer vor die französische Grenze kam. Dann erwischten mich die Bullen bei einem Kircheinbruch und ich wurde zu einem halben Jahr verurteilt. Zwei sitzen, vier fallen lassen und ich zog weiter nach Frankreich. Dort in Vorangeville nahe Rouen wurde ich nach einem Unfall mit einer Flinte festgenommen. Die Schußwunden sind allmählich fast verheilt. Vor zwei Tagen habe ich mir die hoffentlich letzte Kugel selber rausgeschnitten, bis zum Arzt vorzudringen, ist für mich als nicht französisch sprechendes Wesen ein Problem.

Heute traf mich nun der Hammer der Woche: Interpol sucht nach mir. Ich bin doch nur ein ganz kleiner Fisch, habe mit Körperverletzung nie etwas zu tun gehabt und die wollen, daß ich wegen des Hauses in Lauenburg ausgeliefert werde, wo ich doch schon in Belgien für das Auto verknackt worden war. Wenn ich dann erstmal in Deutschland bin, kommt die Sache mit dem Boot (Piraterie?) auch noch irgendwann raus und in Berlin liegt schon ein Urteil wegen einer eingeworfenen Fensterscheibe (Freundschaftsstreß beziehungsweise Caféhausbesitzer wollte ausgeliehenes Werkzeug nicht rausrücken) und abgebrochener Autoantenne (mein so heißgeliebter Ex) von über eineinhalb Monaten vor. Wenn ich für die anderen Sachen dann auf dem gleichen Niveau verurteilt werde, sitze ich hier in Frankreich erstmal etwa ein bis eineinhalb Jahre, dann in Berlin die eineinhalb Monate, dann für das Haus und zum Schluß für das Boot...

Das wird mächtig lang und ich möchte auch nicht doppelt für etwas bestraft werden. Die Form der Haft, wie ich sie hier erlebe, ist sowieso die Qual auf Erden. Ich war schon zweimal im Loch, weil ich a) zu laut den Krankenpfleger angebrüllt habe, der mich laufend am Ärmel zupfte (gehen kann ich schließlich allein), und b) aus Frust 'ne Zelle in Scherben gekloppt habe. Irren ist menschlich. Verhandlung im Stehen, kein Dolmetscher, kein Argument und sieben oder acht Tage KZ-mäßig. Meine Knochen tun jetzt noch mehr weh von der Kälte. Ich kann nicht den ganzen Tag stehen, dann sollen sie doch lieber wieder die Folter einführen, da weiß man genau auf welcher Seite man steht beziehungsweise liegt. [...] Genug. Ich bin erschöpft. Ich habe hier keinen Anwalt mehr, denn der sagte mir, ich soll nicht aussagen. Ich hab aber dennoch gequatscht. Ich hielt das für schneller oder besser. Vielleicht könnt ihr diesen Brief ja mal einem Anwalt zeigen, die Post hier wird sowieso von mehreren Personen zur Kenntnis genommen, aber das ist mir egal, vielmehr, ich kann es nicht ändern, das Briefgeheimnis brechen noch ganz andere. Andreas Buddenky, Rouen