Silberblick

■ BiNationale: Sowjet-Kunst um 1990 in Düsseldorf

Die Düsseldorfer Kunsthalle — und darin unterscheidet sie sich deutlich von der sanft entschlummerten Kunstsammlung auf der anderen Seite des Grabbeplatzes— fungiert erneut als Werkstatt: Wie schon bei der Ausstellung kubanischer Kunst im letzten Jahr wurde auch beim sowjetischen Teil der BiNationale drei Wochen lang gebastelt, installiert und inszeniert. Die 27 zumeist „inoffiziellen“ Künstler aus dem europäischen Teil der Sowjetunion konnten so ihre für diese Gelegenheit erstellten Arbeiten gleich vor Ort arrangieren. Die Kunsthalle als Wohnzimmer: Dimitrij Wrubels baute vor das Museumsfenster eine zweite Wand, stellte ein Matratzenlager zusammen und schuf so für seine Apt-Art-Bilder das heimische Umfeld.

Vor Ilja Kabakows Der Rote Waggon steht eine Himmelsleiter aus Ikea-Latten im „konstruktivistischen Stil der zwanziger Jahre“: Betreten verboten. Der rote Zug — von hier aus wurde die russische Revolution in die fernen Gegenden der späteren Union getragen — ruht räderlos und aufgebockt dahinter. Wo sich sonst die Fenster befinden, hängen Gemälde: sozialistischer Nachkriegsrealismus von Feld, Fabrik und Familie. Im Inneren des Zuges wird ein langgestrecktes Panoramabild von einem Bühnenrahmen gefaßt: Der Ausblick auf eine Metropole und ihre Weltausstellung aus der Sicht eines Luftschiffs. Der Himmelswaggon schwebt über den Errungenschaften einer befriedeten und prosperierenden Industriegesellschaft und entspricht in der Art der Darstellung durchaus dem American dream der fünfziger Jahre. Am Hinterausgang des Waggons, beim Abstieg in die Gegenwart, liegt ein Müllhaufen aus Plastikfolie, Farbeimern und Holzresten, der bei der Errichtung des Roten Waggons anfiel und den niemand wegräumen will. Danach kommt dann nur noch die (Museums-)Mauer.

Kabakows Geschichts-Arbeit — zentral und weiträumig in der größten Ausstellungshalle errichtet — ist auch für den Westblick einsichtig. Ist— eben weil man das Bild „versteht“— der häufig in Mitteleuropa und den USA arbeitende Künstler deshalb schon verwestlicht und nicht mehr „authentisch“? Trotz internationalen Austauschs und Weltmarkt erkennt man eigenartigerweise immer noch so etwas wie „Nationalkunst“. Aber dies ist ja bei amerikanischer Kunst (Klischee: grell, Pop) oder deutschen Gemälden (Klischee: wild, Mythos) nicht anders. Liegt es daran, daß man sich dabei nur das „Verständliche“ herauspickt? Bleibt der schwer annehmbare Mythizismus vieler sowjetischer Arbeiten allein dem Westler fremd?

„Die Frage ist nur, wie weit wir bereit und fähig sind, Zeichensysteme aus ihrem Kontext heraus zu interpretieren, bevor wir eines zum Gegenstand des Vergleichs mit einem anderen machen“, so Jürgen Harten, der die BiNationale angestiftet hat. Ein Hinweis, der bei der Präsentation kubanischer Kunst, ebenfalls von Kunsthallenchef Harten betreut, nicht nötig war: Für deren eigenständige und in der Mischung aus Sozialismus, Comic und Totenkult reichen Installationen brauchte man keinen Silberblick, der sich immer dann einstellt, wenn man die Sache wohlmeinend „mit anderem Auge“ betrachtet. Sowjetische Kunst bleibt — im Vergleich zu Kubas weit lässigeren Variante — mit anderen politischen, literarischen und mystischen Klumpfüßen der Geschichte behaftet: Walentin Rajewskijs Version des sozialistisch-Roten Waggons ist ein ganz mit grauen Bleiplatten ausgeschlagener Bus, der die Abräumarbeiter von Tschernobyl transportiert.

Sergej Bugajew nennt sich neuerdings Afrika, arbeitete mit der Performance-Gruppe „Pop-Mechanika“, traf in Leningrad John Cage und soll für Merce Cunningham eine Bühne entwerfen. Ende November letzten Jahres fuhr er mit seinen Kollegen Anufrijew und Kulikow für sechs Tage zur Krim-Halbinsel und brachte von seiner Erkundung Postkarten, Knochen, Embleme, Bodenaufnahmen, meteorologische Ausdrucke und eigenartige Textilien mit nach Düsseldorf. In einer rekonstruierten Holzhütte sind auf Video Interviews mit den Einheimischen zu sehen. Afrikas ethnologische Reise in das „Paradies der Werktätigen“ führte ihn in eine klimatisch, landschaftlich, religiös und sozial äußerst vielgestaltige Region der Sowjetunion. Gleichzeitig reizte die drei Forschungsreisenden, daß der Kampfflieger Joseph Beuys hier abgeschossen und — so rankt sich die Legende — von Tataren am Leben erhalten wurde. Während die Ausflugfotos im Katalog ein durchaus schillerndes Bild von der Krim vermitteln, geriet ihre Installation allerdings arg trocken und hat etwas vom verblaßten Charme eines Heimatmuseums.

Was fehlt: die pseudonaiv collagierten Wandteppiche mit Rentier, Fliegenpilz und Tannen von Timur Nowikow. Wera Chlebnikowas Collagen aus bedrucktem und gerissenem Papier, welche sich zu kleinen Hügeln auftürmen. Eine Tuschzeichnung mit unschuldig-nackten Mädchen, von der Gruppe „Medizinische Hermeneutik“: „Dem Andeken der DDR“ gewidmet. Igor Kopystjanskijs Konstruktion aus auf- und ausgerollten Leinwänden, die er zu einem postmodernen Kunsttempel arrangierte: „Ich benutze Bilder als Polstermaterial für Möbel, als Teppiche, Tapete, Tischdecke.“ Jochen Becker

Bis zum 2.Juni in Düsseldorf; danach in Jerusalem und 1992 in Moskau. Der Katalog kostet 48DM.