Der Barthes ist ab

„Fragmente einer Sprache der Liebe“ — eine Roland-Barthes-Dramatisierung im Frankfurter „Theater am Turm“  ■ Von Elke Schmitter

Die Liebe ist ein endloser Fluß, ein Strom, der sich durch die Jahrhunderte wälzt, ein ewiges Murmeln und Ächzen und Wortemachen, eine Litanei des einsamen Sprechens; ein Fluß, in den jeder Liebende einen Fuß setzt und der unverändert weiterfließt, den Liebenden am Ufer zurücklassend mit einem mäandernden Spiegelbild, allein und einsam wie zuvor. Es könnte zu lieben nichts anderes bedeuten, als einen Fuß in diesen Fluß zu setzen und dabei zu begreifen, daß die Sprache über die Liebe, die Anrede des gedachten Gegenübers nichts weiter ist als etwas in diesem Fluß Gefundenes — etwas, das einmal schön gewesen ist und dem man nun ansieht, daß es eine weite Strecke hinter sich hat und die Spuren des Gebrauchs an sich trägt. Dann würde es nicht mehr um die Erlebnisse dieses einzelnen gehen, nicht mehr um die Liebesgeschichte, die er zu erzählen hat und die den tausend und abertausend Verlaufsberichten über das, was man Liebe genannt hat oder nennt, hinzuzufügen wäre: dann würde es um die Erfahrung gehen, daß es jenseits der Logik dieser besonderen, biographischen Geschichte das Sprechen über die Liebe als solches gibt. Seit zwanzig Jahren etwa nennt man es: den Diskurs über die Liebe.

Diese Erfahrung wäre an einem Buch zu machen, das diesen Diskurs nicht im ganzen vorstellt, sondern exemplarisch zeigt: wie in einem Wörterbuch der Liebe, in dem sich, mehr oder minder wahllos herausgegriffen, die Vokabeln finden, die sich in jeder Liebesempfindung wiederholen — Worte wie Begehren, Abwesenheit, Zufall und Zugrundegehen. Weil jedes Buch allein gelesen wird, ist diese Erfahrung nicht dazu angetan, den Verlauf der Liebesgeschichte, die der Lektüre notwendigerweise zugrunde liegt, zu denunzieren: es geht nicht darum, den Leser zu beschämen mit der Erfahrung, daß all die Worte, die er selbst gebildet hat, die er für einzigartig hielt in dem Moment, da er sie dachte oder aussprach, schon einmal gesprochen und geschrieben wurden. Daß er also wider Willen teilnimmt an diesem großen Rauschen und Murmeln, dem er seine Stimme hinzufügt. Es geht nicht um Erkenntnis im aufklärerischen, zugleich zynischen Sinne, die besagt: Alles, was du aussprichst, ist geliehen, zudem schon abgenutzt, bevor du es in den Mund nimmst, du zitierst also, ohne dir dessen bewußt zu sein — und selbst wenn du es wüßtest, wäre es gleichgültig, weil es nur diese Worte gibt, die immer etwas anderes und trotzdem natürlich immer dasselbe bezeichnen, du mußt sie dennoch benutzen. Es geht also bei dieser Lektüre nicht um die Erfahrung des Geliehenen, sondern paradoxerweise um etwas Gegenteiliges, nicht um Entlarvung, sondern Entlastung von der eigenen Liebesgeschichte durch ihre Benennung nicht im therapeutischen, sondern im literarischen Sinn. Und selbstverständlich ist diese Erfahrung daran gebunden, daß man sie allein macht, daß also eine Vergegenwärtigung stattfindet, die sich um die Realität nicht scheren muß.

Diese Überlegungen lassen den Versuch, Roland Barthes' Fragmente einer Sprache der Liebe „frei“ zu dramatisieren, einigermaßen gefährlich, wenn nicht sinnlos erscheinen: Das wenige, was man der atavistischen Kunstform Theater zugute halten kann, ist die Zwanghaftigkeit des Kollektiven und Spontanen, die ihm zugrunde liegt, auf der Bühne wie im Publikum. Das Medium Kino isoliert nicht nur durch die Dunkelheit im Zuschauerraum, sondern vor allem durch die Tatsache, daß gleich welche Publikumsreaktion am Ablauf der Spule nichts ändern kann, daß atomisierte Individuen, auch wenn sie aus einer Tüte Popcorn essen und ihre ersten erotischen Erfahrungen in der letzten Reihe machen, dennoch eine isolierte Erfahrung des Sehens und Hörens haben, daß sie einer Maschine beim Funktionieren zusehen. Im Kino hat so etwas wie Lachen oder Scham keinen Sinn; nicht nur, daß niemand sieht, wie man rot wird, es ist auch unsinnig, vor etwas zu erröten, das nicht menschlich ist. Fragmente einer Sprache der Liebe im Kino wäre also kein absurdes Unterfangen; nach der Lektüre ist man nirgends so allein und verantwortungslos wie vor einer Leinwand. Im Theater aber nimmt das Publikum teil.

Es ist erstaunlich und schön, daß die Frankfurter Dramatisierung dieses Textes dennoch irgendwie gelungen ist. Gemessen am Text und daran, welche Erfahrung er provoziert, ist sie natürlich gescheitert — wenn auch auf beachtlichem Niveau. Denn es ist kein Zufall, daß der Text immer nur ein Individuum im Auge hat — das liebende, das einsam seinen Text spricht. Es geht nirgends um die Darstellung von Szenen, bei denen psychologisch beschrieben würde, welcher Art eine bestimmte Liebe ist. Es geht immer nur um die hilflosen Bewegungen, die der eine auf den anderen zu macht, um die Überbrückung einer Distanz mit Worten — und um die Erfahrung, daß die Worte selbst schon eine Art Ankunft bedeuten, ganz unabhängig von dem Ziel, auf das hin sie gesprochen worden sind.

Elke Lang und Ursula Keller haben sich dafür entschieden, diese einsame Struktur aufzulösen — einmal durch die Darstellung im Theater, zum anderen durch die Ergänzung des einsamen Sprechens um das — mißlungene — Sprechen miteinander. Sie zeigen nicht nur wartende, hoffende, mürb verzweifelte Liebende, sondern auch liebende, streitende und schweigende Paare in demselben Versuch — gemeinsam in diesen Wortstrom zu tauchen und dabei möglichst unterzugehen, sich aber anschließend wiederfindend an gegenüberliegenden Ufern. Sie wechseln die Stimmungen, was nicht ohne rabiate Brüche abgeht und nicht ohne Ausflüge in den Slapstick. Sie zitieren aus der Literatur und verwenden eigene Texte in ganz unterschiedlichen Tonlagen, vom Werther bis zu Woody Allen. Sie verzichten dabei auf die Erfahrung der Innerlichkeit, die Barthes nahelegt, zugunsten der Theatererfahrung: daß ein Publikum sich selbst gespiegelt sieht und befreit oder auch verlegen auflacht, wenn es die Szene hört, die gestern erst im Doppelbett stattfand.

Aus Verinnerlichung wird so Dialektik, und aus Lektüre Theater: am Anfang ein Punkt aus Licht, der langsam ein Nichts absucht, das schwarz, aber nicht spurenlos ist. Die Ortlosigkeit des Diskurses, versuchsweise und gut und dennoch vergeblich ins Bild gesetzt durch diesen Punkt auf unzählig scheinenden schwarzen Vorhängen, die sich öffnen und schließen — gleichwohl die Illusion von Geschichten erwecken, in die sie Einblick geben. Geschichten, wie sie sich überall abspielen: eine Frau, die dem Mann zusieht, der sich anzieht und geht, ein Mann, der am Telefon wartet, ein Paar am Frühstückstisch. Es sind eben Paare, die den Beziehungsdiskurs sprechen, in kurzen Szenen sich und das Publikum darüber verständigen, wie es um sie und ihre Liebe steht. Da die Bilder sehr gut sind, die Schauspieler oft hinreißend, die Musikdramaturgie berückend wie ironisch, nimmt man die Wendung gern in Kauf. Es ist ein weiterer Schritt auf dem Weg in die permanente Dialektik zwischen Diskurs und Leben, in der das zweite zum Verschnittprodukt des ersten geworden ist, den man wieder zurücknimmt ins Leben, wo sich die Falte im Mundwinkel vertieft, mit dem man dieselben Sätze immer wieder sagt. Roland Barthes hört auf mit dem Satz „Ich bete dich an“, Lang und Keller gehen weiter bis zu „Deine Mutter läßt mich nie ausreden“. Das ist die Strecke von Werther bis Woody Allen, die da nicht abgeschritten, aber überflogen wird; damit ist auch die Zeit- und Ortlosigkeit des Barthesschen Verfahrens aufgehoben zugunsten einer Diagnostik wider Willen: Diese Litanei der Liebe, auf der Bühne gesprochen, wird vom abstrakten Diskurs zum realen Ereignis — und da hilft es auch nichts, sondern ist eher störend, daß doch Ausflüge in die Historie stattfinden, daß Werther und Woody sich abwechseln. Wenn man sich für die Dramatisierung entscheidet, dann auch für die soziale Verankerung und für die Einsicht des Publikums, das nun reagieren muß — das Frankfurter Premierenpublikum beiläufig begeistert.

Die übermächtige Wirkung der Szenen auf der Bühne negiert die entscheidende Idee von Roland Barthes: daß der Diskurs der Liebe, wie kein anderer, nicht an falschen Worten scheitert. Sondern an dem, der nicht an ihm teilnimmt.

„... immer von dir... immer von mir...“ , frei nach Roland Barthes' Fragmente einer Sprache der Liebe . Regie und Raum: Elke Lang, Dramaturgie und Konzept: Ursula Keller, Musik: Ströer Bros. Theater am Turm, Frankfurt/Main. Die nächsten Aufführungen: 15. bis 22.Mai, jeweils 20.30Uhr