Keine Chance für die Wahrheit

■ Morgen beginnt die Berufung im Prozeß gegen Adriano Sofri

Im ersten Verfahren gegen die ehemaligen „Lotta continua“-Genossen bestimmten Instrumentalisierung und Verständnislosigkeit für die Situation zu Beginn der 70er Jahre das Bild. Heute stellt sich die Frage, ob es in diesem Verfahren überhaupt noch die Chance irgendeiner Wahrheitsfindung gibt. Der Verdacht, man wolle hier weniger Sofri als dessen Freund, den umstrittenen Justizminister und stellvertretenden Ministerpräsidenten Claudio Martelli, und andere inzwischen aufgestiegene Ex-68er treffen, weil man ihnen anders nicht beizukommen meinte, war nämlich während des ganzen erstinstanzlichen Verfahrens nicht von der Hand zu weisen.

Daß der „Kronzeuge“ Marino in vielen Punkten die Unwahrheit sagt, ist offenbar, und daß ihm bei der Zusammenstellung seiner Anklagen wohl der eine oder der andere zur Seite stand, ebenfalls. Doch das muß noch nicht heißen, daß er in allem neben der Wahrheit liegt. Daß das Gericht leichtfertig Dutzende von Zeugen einfach als „Freunde“ Sofris und damit als befangen abtat, ist unverzeihlich. Aber auch diese Erkenntnis bringt nicht mehr Licht in die Sache.

Wahrscheinlich war Sofris von Anfang an verfolgte Linie, die Sache zuerst politisch aufzuarbeiten und erst dann die strafrechtliche Seite zu behandeln, die einzig aussichtsreiche. Sie wäre möglicherweise für ihn selbst die gefährlichere gewesen: Er hätte sich dann zum Beispiel der Frage stellen müssen, ob Marino sich nicht tatsächlich von den von ihm so verehrten politischen Köpfen beauftragt gefühlt hatte — ohne daß die sich selbst darüber klar waren.

Dasselbe Problem hatte sich bereits anderweitig gestellt, ohne daß es jemals explizit thematisiert worden wäre; etwa bei den Prozessen um die „Autonomia operaria“, wo die Führer der Bewegung (etwa Toni Negri und Oreste Scalzone) ebenfalls glaubhaft in Abrede stellten, jemals Aufträge für Gewaltanwendung gegeben zu haben — und wo die Mitläufer oft ebenso glaubhaft erklärten, sich doch beauftragt gefühlt zu haben, und sei es nur durch allgemeine Haßworte oder Gesten der angebeteten Führer.

Dies ist ganz sicher eines der Terrains, auf dem noch sehr viel an Geschichte, an Mißverständnissen und Naivitäten — verzeihlicher und unverzeihlicher Art — aufzuarbeiten ist. Der Sofri-Prozeß hätte ein Anfang dafür sein können. Seine Instrumentalisierung und die Weglenkung von den politischen Inhalten hat dies verhindert. Werner Raith