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KURZESSAYAuf dem Weg nach Moncloa?

■ Die osteuropäische Debatte über einen neuen Sozialvertrag und die „spanische Erfahrung“ oder das wechselvolle Schicksal einer Analogie

Als in den 70er Jahren in Osteuropa die Hoffnung auf eine Reform „von oben“ schwand und sich die ersten Kerne der demokratischen Opposition bildeten, belebte der „spanische Weg“ als eines der möglichen Entwicklungsmodelle hin zur Demokratie die politische Einbildungskraft der Demokraten. Adam Michnik sah in ihm den „neuen Evolutionismus“ vorgezeichnet, in dessen Verlauf friedlich und über eine Kette von Kompromissen der Partei-Staat demontiert werden und demokratische Verhältnisse sich durchsetzen sollten. In den 16 Monaten der Solidarnosc 80/81 wurden die Abmachungen zwischen der Gewerkschaft und der niedergehenden Staatsmacht in Vertragskategorien gedacht, deren Ursprünge im klassischen Liberalismus lagen, für die aber das nachfrankistische Spanien einen möglichen Erfahrungshintergrund bildete.

Der Kriegszustand in Polen unterbrach diese spezifische Reflexion. Statt Juan Carlos beherrschte Pinochet und die Schreckensvision eines autoritären, die Herrschaft der Machtoligarchien konservierenden, „chilenischen“ Wegs zur Marktwirtschaft die Diskussion. Als aber 1989 die realsozialistischen Regime in die tödliche Krise gerieten, lebte die alte Analogie wieder auf. Das Interesse richtete sich jetzt auf die Frage, ob der Modernisierungsschub, den Spanien seit den 70er Jahren erlebt hatte, neben anderen Faktoren auf einen Kompromiß und auf die Zusammenarbeit der großen gesellschaftlichen und politischen Kräfte, mithin auf einen Stabilitätspakt zurückzuführen sei. Damit geriet das Abkommen von Moncloa, das 1977 zwischen den Gewerkschaften, den Unternehmerverbänden und der Regierung abgeschlossen worden war, in die öffentliche Debatte.

Die Analogie zum „spanischen Modell“

Daß historische Analogien, konsequent durchgeführt, in die Irre führen, ist ein Gemeinplatz. Beim Abkommen von Moncloa ging es um einen Kompromiß zwischen der geschwächten Arbeiterbewegung und Teilen der „modernisierenden“ Bourgeoisie. Gesichert werden sollten die immer noch bedrohten demokratischen Institutionen. Die Kraft eines durchs EG-Kapital verstärkten Modernisierungsschubs sollte die „Rückkehr Spaniens nach Europa“ bewirken. All diese Voraussetzungen sind in den jungen Demokratien Osteuropas nicht gegeben.

Schon in der Spätzeit Francos hatte sich das „organische“ faschistische Wirtschaftssystem weitgehend zersetzt, und die spanische Ökonomie steuerte trotz eines ausgedehnten, überkommenen Staatssektors ins Fahrwasser kapitalistischer Normalität. Gerade die expandierenden Industriezweige waren bereits international verflochten. Ganz anders die Realität Osteuropas. Ein großer Teil der Betriebe wird auf absehbare Zeit im Staatsbesitz verbleiben. Ganz im realsozialistischen Kampagnenstil wirbt man für die Privatisierung und den Kauf von Aktien, ohne daß die Bedingungen für einen funktionierenden Kapitalmarkt erfüllt wären. Das ausländische Kapital, speziell das EG-Kapital, zeigt wenig Neigung, zu investieren. Während der traditionelle Handel mit der Sowjetunion zusammengebrochen ist, sind die Chancen auf den westlichen Märkten unvergleichlich schwächer als die Spaniens zu Ende der 70er Jahre. In einer, vielleicht der wichtigsten, Hinsicht freilich trägt die Analogie. Sie läßt sich in die Frage kleiden, ob in Osteuropa das Modernisierungsprojekt einschließlich der damit verbundenen tiefgreifenden Rationalisierungen und Umstrukturierungen von einer demokratischen Regierung und auf Grundlage eines nationalen Konsenses bewältigt werden kann.

Das Problem eines neuen Gesellschaftsvertrags

Alle frei gewählten Regierungen Osteuropas sehen sich heute, nachdem die Begeisterung der Revolutionstage, die „Selbstgewißheit“ der Massen verflogen ist, vor der Gefahr einer autoritären Entwicklung. Aber neue Caudillos, von den enttäuschten Völkern inthronisiert, wären nur scheinbar eine Alternative. Sie könnten wenig mehr produzieren als nationalistische Ideologie und den sozialen Frieden der Stagnation. Ihr Populismus zwänge sie gerade dazu, die überkommene Industriestruktur aufrechtzuerhalten. Sie wären der sichere Garant nicht der „Hispanisierung“, sondern der „Lateinamerikanisierung“: Hyperinflation bei gleichzeitiger Dauerkrise eines immer rückständigeren Produktionspotentials und wachsende internationale Verschuldung.

Bei den demokratischen Kräften im ehemaligen „Ostblock“ einschließlich der russischen Föderation wird der Ruf nach einem neuen Gesellschaftsvertrag lauter. Er folgt der Einsicht, daß das Desaster eines „autoritären Experiments“ nur vermieden werden kann, wenn in den Grundfragen des Übergangs zur Marktwirtschaft Übereinstimmung erzielt wird. Aber mit welchen Mitteln? Und noch wichtiger: Wie soll diese Übereinstimmung die Billigung von Gesellschaften erhalten, in deren Alltagspraxis die Schwierigkeiten der „Umstellung“ ungebremst durchschlagen?

Die polnische Debatte

In Polen, wo die Diskussion hierüber am avanciertesten ist, stehen sich zwei Konzeptionen gegenüber. Mazowiecki propagiert einen „Pakt für Polen“, der die allgemeinen Regeln einer „nichtantagonistischen“ Streitkultur festlegen und dem Entbehrungs-Patriotismus eine neue Grundlage geben soll. Die Solidarnosc-Linke, um die zahlenmäßig unbedeutende, aber intellektuell einflußreiche Gruppierung „Solidarnosc-Prace“, schlägt dagegen einen inhaltlich bestimmten Sozialpakt vor, eine „Modernisierungskoalition“, die den Übergang zum Markt mit dem Aufbau starker demokratisch-parlamentarischer Kontrollinstanzen, Dezentralisation und der Belebung lokaler wie betrieblicher Selbstverwaltung verflicht. Die Privatisierung wäre demnach ein sozialer Prozeß, der der Marktrationalität folgen muß — aber nicht über die Köpfe der Betroffenen hinweg. Reicht der Markt mit seinen informativen und steuernden Kapazitäten, oder bedarf es der demokratischen Transparenz, mit anderen Worten: Kann und soll der ökonomische Prozeß selbst einem mitgestalteten Konsens unterliegen? Die Gegner einer solchen Auffassung argumentieren, sie liefe in der Praxis auf den Erhalt alter Strukturen hinaus, auf eine konservative Selbstverteidigungs-Mentalität. Ein Sozialpakt müsse sich gerade auf diejenigen Kräfte stützen, die entschlossen seien, sei es auch um den Preis einer unsicheren Lebensperspektive, aus den realsozialistischen Koordinaten auszubrechen. Erst auf der Basis einer funktionierenden Marktökonomie könnten die alten politischen Differenzierungen wieder sinnvoll werden. Kuron: „In einem polnischen Kapitalismus möchte ich einmal zur linksliberalen Opposition gehören.“

Im Augenblick sieht es danach aus, als bewegten sich die „Sozialpakt“-Vorstellungen in einem Schema, das den neuentstehenden Mittelschichten und deren Intellektuellen eine dynamisierende, gesellschaftsintegrierende Wirkung zuweist, während die Arbeiterschaft vor allem der veraltet-defizitären Industriezweige in eine passive Rolle gedrängt wird. Für sie würde der Pakt bedeuten, ihrer eigenen Abschaffung zuzustimmen — und dies ohne soziale Sicherung. In dem auf Moncloa folgenden Jahrzehnt ist es einer sozialistischen Regierung in Spanien geglückt, Stillegungen größten Ausmaßes durchzusetzen, ohne ihren Einfluß auf die Arbeiterklasse zu verlieren und ohne die Demokratie der Zerreißprobe auszusetzen. In den Ländern Osteuropas aber, wo die traditionellen Wertvorstellungen sich auflösen, die Bindung an Parteien und deren Programme schwach und Kompensationen durch rasches Wachstum nicht in Sicht sind, kann auf eine erfolgreiche Wiederholung dieses Manövers nicht gehofft werden. Hier auf alle Fälle gilt: Do ut des. Christian Semler

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